Die Dexter Cider Mill ist eine einfache Holzkonstruktion, dunkelrot gestrichen mit weiß umrahmten Fenstern, wie sie auch irgendwo an der Ostküste stehen könnte – so haben schon die ersten Siedler auf amerikanischem Boden gebaut. Der Anbau dient als Verkaufsraum, das Tor steht offen. Gleich am Eingang hängen Konterfeis von Abraham Lincoln und George Washington. Die beiden Herren machen ernste Gesichter, wie es sich für ehemalige US-Präsidenten gehört.
Drinnen duftet es nach gebranntem Zucker und Süßmost. Hinter dem mit rotgewürfeltem Tuch bedeckten Verkaufstresen steht eine junge Frau, die einem Ehepaar eine Gallone Cider und eine Tüte Äpfel verkauft. Sie begrüßt die Besucher und lacht, als diese sie mit Fragen überhäufen. „Wenn Sie etwas über die Geschichte der Cider Mill wissen wollen, müssen Sie schon meinen Vater fragen.“ Der könne aber nicht weit sein. „Dad!“ ruft sie.
Richard Koziski steht im Nebenraum am Kühlbehälter und füllt Cider in Plastikgefäße ab. „Wollen Sie probieren?“ fragt er und reicht einen Becher voll über den Tisch. Der Cider ist sehr dunkel, er hat etwa die gleiche Farbe wie die braun glänzenden Karamell-Äpfel vorne auf der Ladentheke, und er schmeckt schwer und süß. Die Beigabe von Birnen, die dem schwäbischen Most seine räse Spritzigkeit verleiht, ist hier nicht üblich. Dafür wird versucht, durch geschickten Verschnitt der Apfelsorten einen wohlschmeckenden Cider zu erzeugen. Im Staat Michigan, einem der wichtigsten Apfelanbaugebiete der USA, werden über 30 Sorten kommerziell angebaut, sagt Koziski. Darunter so alte Varietäten wie der seit gut 200 Jahren bekannte McIntosh-Apfel.
Wahrscheinlich stammt der McIntosh von einer alten französischen Sorte ab. Der Legende nach hatten bereits die Franzosen, die von 1701 an am Detroit River siedelten, Apfelkerne im Gepäck. Most mundete ihnen ebenso wie den Engländern – 1760 ging die Siedlung in britischen Besitz über. 1796 kam Detroit unter amerikanische Verwaltung; von diesem neuen Zentrum aus wurde ganz Michigan besiedelt. Auf frisch gerodetem Gelände wurden nicht nur Äcker angelegt, so ist überliefert, sondern stets auch Obstbäume gepflanzt.
Gerade in der Gegend um Ann Arbor ließen sich Anfang des 19. Jahrhunderts zahlreiche Einwanderer aus Süddeutschland nieder, wie die vielen Nachnamen belegen, die auf -le enden – auch der Name der Verfasserin steht mehrfach im Telefonbuch. Die Pioniere aus Schwaben dürften ihre eigene Mostkultur mitgebracht haben. Einige kleinere Mostpressen mit Handkurbel, die Richard Koziski in einem Lagerraum aufgestellt hat, sehen entsprechenden Exponaten aus schwäbischen Heimatmuseen jedenfalls verblüffend ähnlich.
Für die Mostproduktion im großen Stil nutzte man einst in ganz Michigan die Wasserkraft, um die Äpfel zu zerkleinern und zu pressen. Obwohl sie ihr Mühlrad längst eingebüßt hat und mit Strom betrieben wird, bietet die Dexter Cider Mill einen malerischen Anblick am Ufer des Hudson River. Der fließt auch durch die Universitätsstadt Ann Arbor. Das macht Dexter zum beliebten Ausflugsziel bei den Studenten: Sie brauchen nur ein Stück am Fluss entlangzuradeln, um in den Genuss von Cider und frischen Donuts zu kommen. „Es ist eine Tradition“, sagt Koziski. „Und wir zeigen ihnen, wie man schon vor mehr als 100 Jahren Cider gemacht hat.“ Er habe praktisch nichts verändert seit der Übernahme der Mühle vor 20 Jahren. Die Dexter Cider Mill ist laut Koziski die älteste im Staat, die ununterbrochen in Betrieb ist: Seit 1886 fließt hier im Herbst Most aus der Presse.
An die 150 Cider Mills soll es in Michigan noch geben, und ihre kulturhistorische Bedeutung wird oft betont: Viele spiegeln ein Stück amerikanische Geschichte wider. Erster Inhaber der Dexter Cider Mill war ein Veteran aus dem Sezessionskrieg. Kurz nach 1900 erwarb ein gewisser Otto Wagner – „auch ein deutscher Name“, bemerkte Koziski – die Cider Mill. In der Wagnerschen Familie blieb die Mosterei dann, bis Koziski sie kaufte. Früher habe er bei Ford gearbeitet, und daher die ersten fünf Jahre nur an Wochenenden gemostet, erzählt Koziski: „Im Herbst haben wir sieben Tage in der Woche gearbeitet – fünf Tage im Betrieb, und am Samstag und Sonntag hier.“
Seit er im Ruhestand ist, hat die Dexter Cider Mill in der Saison mittwochs bis sonntags geöffnet, und zwar weit bis in den November hinein. Die ganze Familie ist eingespannt: Ehefrau Katherine, die früher mal bei Kellogg’s in der Versuchsküche arbeitete und ein hoch gelobtes Apfelkochbuch verfasst hat, bäckt Kuchen. Und die Töchter mit Anhang helfen ebenfalls abwechselnd mit: Wie die Mostpresse funktioniert, erklärt Schwiegersohn Martin Steinhauer, der Mann von Nancy, die an diesem Tag den Verkauf macht.
„Die Konstruktion ist sehr einfach“, sagt Steinhauer, der sonst Computer-Software verkauft. Die zerkleinerten Äpfel werden in ein Tuch eingeschlagen und auf einen Lattenrost aus Eichenholz gelegt, darauf kommt wieder ein Rost und eine Schicht Äpfel, und so fort. Der Stapel kommt in eine hydraulische Presse – und unten fließt der Saft heraus. Pro Pressung werden rund 1500 Pounds Apfelschnitze verarbeitet, gut 680 Kilogramm; das ergibt jeweils 100 Gallonen oder 378 Liter Süßmost. Und so, wie er herauskommt, wird der Most auch verkauft: „It’s all natural“, so Steinhauer, „alles ganz natürlich.“
Weil er sein Stöffchen so naturbelassen will, ist Richard Koziski auf Direktvermarktung angewiesen – im Supermarkt verkaufter Süßmost muss pasteurisiert werden, das ist gesetzlich vorgeschrieben. Sein Cider fängt nach fünf Tagen an zu gären. Und wie viele Gallonen Most produziert die Cider Mill in einer Saison? Da grinst Koziski nur ganz breit und sagt: „Das weiß ich nicht. Ich will es nicht wissen.“
(Erschienen im Schwäbischen Tagblatt am 15. Oktober 2003.)