Monday, July 8, 2013

Ein leeres Nest

Neben dem Bett, das mir beim Besuch meiner Schwiegerfamilie als Schlafstatt dient, sitzt ein ziemlich großer Teddybär. Das leicht ramponierte Plüschtier hat Schlappohren und entpuppt sich bei näherem Hinsehen als Schaf, was aber nichts daran ändert, dass es ziemlich verwaist aussieht. Obwohl es grinst. Die Nichte meines Mannes, der dieses Zimmer gehört, ist zum Studieren in eine andere Stadt gezogen, und Schmusetiere dürfen da nicht mit.

Fort. Ausgeflogen. Das ist der Lauf der Welt, sagt meine Schwägerin und hat natürlich recht – schließlich will keiner, dass der Nachwuchs den Absprung nicht schafft und für ewig im Kinderzimmer hocken bleibt. Die Nestwärme besitzt ein Verfallsdatum. Trotzdem: Dieses Jungmädchenzimmer, dessen Wände und Schranktüren mit Fotos tapeziert sind, stimmt mich schon ein wenig melancholisch.

Interessanterweise handelt es sich fast ausschließlich um persönliche Fotos, nicht etwa um Posters von Stars oder Sternchen. Bilder aus Kinderzeiten, mit Bruder und Schwester in Wanderkleidung vor Dolomitenspitzen. Ein Jugendbild der Mutter. Ein Bild des Großvaters mütterlicherseits, der vor ein paar Jahren verstarb – es muss ein schmerzlicher Verlust gewesen sein, denn die entsprechende Todesanzeige steht gerahmt auf dem Nachttisch. Gleich neben dem Wecker.

Die meisten Fotos zeugen von eher fröhlichen Zeiten: Das Hochzeitsfoto der Schwester, die ein paar Jahre älter ist, aber immer noch sehr jugendlich aussieht. Es ist eine wirklich schöne Braut. Schnappschüsse von Partys, auf denen sich junge Menschen die größte Mühe geben, cool auszusehen. Blödelbilder mit Freundinnen, die ein bunter Rahmen adelt. Der Bruder mit einem jungen Mann, der auch auf anderen Fotos zu sehen ist. Das muss der Freund sein.

Über dem Kopfende des Bettes hängen ein paar einzelne Fotos, mit Tesafilm an die Tapete geklebt. An einem davon steckt ein Papierfetzen, auf dem gekritzelt steht: „Schlaf schön mein Schatz.“ Ohne Komma. Ich schaue mir das Foto näher an und erkenne den als Freund identifizierten jungen Mann, der in einem Bett zwischen roten Kissen liegt und schläft. Und im Arm hält er, aber hallo, das plüschige Schaf. Genau das, das am anderen Ende des Bettes sitzt und dümmlich grinst.

Vielleicht behält sie wenigstens den Freund, und er darf ins Erwachsenenleben mitkommen.