Sunday, December 21, 2014

In der Vorweihnachtszeit nach Florida

Heute ist Winteranfang, und nach einem Tag, dessen wichtigstes Ereignis ein langer Strandspaziergang war, sitze ich nun mit meinem Mann in einer Ferienwohnung auf Siesta Key und trinke zur Feier des Tages ein Glas Wein. Hurra, es ist Wintersonnenwende! Jetzt werden die Tage wieder länger. Und ich überlege mir, wie genial es ist, in der Zeit vor Weihnachten nach Florida zu reisen. Es gibt mindestens zwölf Gründe, die dafür sprechen:
  1. Die Hochsaison beginnt oft erst einen Tag vor Heiligabend.
  2. In Kombination mit Sonne, Sand und Palmen wird weihnachtlicher Konsumkitsch zwangsläufig ironisch gebrochen und dadurch mindestens lustig, oft sogar interessant. Scheußlichkeiten wie aufblasbare Santas in tropischen Vorgärten bieten sich als Objekte für Brauchtumsstudien an. Manchmal fährt Santa auch im Boot vorbei.
  3. Seesterne! Plastik-Christbäume, die mit Seesternen oder Sanddollars geschmückt sind, können richtig schön sein.
  4. Das vorweihnachtliche Wetter ist in Florida zwar nicht immer so warm und angenehm, wie man es gerne hätte, aber nach Winterstürmen kann man immerhin an vielen Stränden spektakuläre Muschelfunde machen.
  5. So klar und blau ist der Himmel sonst selten. Falls nicht: siehe oben.
  6. Seafood hat Saison und die frische Meerluft macht Appetit.
  7. Innen- und Außentemperaturen sind ähnlich; in Restaurants wird die Kühlung zurückgefahren, und es ist endlich einmal warm.
  8. Key Lime Pie ist leichter als Christstollen oder Fruit Cake.
  9. Oberon. Das Kultbier aus Michigan, dessen Saison kürzer ist als die von Baseball, ist in Florida ganzjährig erhältlich.
  10. Orangen sind spottbillig. Es gibt auch schon Erdbeeren, aber die sind noch teuer.
  11. Es gibt weniger Moskitos. So hofft man. Manchmal stimmt's.
  12. Wenn die Tage schon so kurz sind, möchte man sie wenigstens in der Wärme verbringen.

Tuesday, November 11, 2014

Wie Ann Arbor und Michigan gewählt haben

Bei den US-Kongresswahlen vor einer Woche konnten die Republikaner den Demokraten genügend Senatorenposten abjagen, um die Mehrheit auch in der oberen Kammer zu übernehmen. Der Sitz aus Michigan war jedoch nicht darunter. Dabei hatten sich die Republikaner im Bundesstaat zunächst große Hoffnungen gemacht, als der demokratische Senator Carl Levin Anfang 2013 seinen Rückzug aus der Politik angekündigt hatte.

Der Kongressveteran Levin, seit 1979 im US-Senat, war nicht nur in seinem Heimatstaat populär. Mit dem sorgfältig übergekämmten Resthaar und der tiefsitzenden Lesebrille war er außerdem eine der markantesten Politfiguren Washingtons. Im jovialen Mittfünfziger Gary Peters, bisher schon Mitglied des Repräsentantenhauses, scheint die Partei indessen einen adäquaten Nachfolger gefunden zu haben: Mit 55 Prozent der Stimmen gewann der Demokrat den Sitz ohne große Mühe. Immerhin war die republikanische Gegenkandidatin Terri Lynn Land jahrelang Staatssekretärin in Michigan und ebenfalls sehr bekannt. Aber Gary Peters gab sich eben nicht als Republican light wie andere demokratische Bewerber für den Senat, die dann trotzdem verloren. Es ist schon auffällig, dass gerade die Kandidaten, die ihren Päsidenten und seine Politik nicht verleugnet hatten, fast alle gewählt oder wiedergewählt wurden. In Ann Arbor konnte Peters sogar über 67 Prozent der Stimmen für sich verbuchen.

Die Kandidaten mit einem „D“ hinterm Namen haben in A2 durchweg wieder besonders gut abgeschnitten – ginge es nach Tübingens Partnerstadt, hieße der Gouverneur jetzt anders. Dabei müsste der Republikaner Rick Snyder eigentlich einen Heimvorteil haben: Der Geschäftsmann aus der IT-Branche, der vor vier Jahren als „taffer Streber“ ins Amt einzog, wohnt in Superior Township, einer überwiegend ländlichen Gemeinde in der Umgebung von Ann Arbor. Snyder lässt sich bis heute vom privaten Heim zum Regieren chauffieren – Lansing, die Hauptstadt des Bundesstaates, ist nur eine gute Fahrtstunde entfernt.

Snyder gibt familiäre Gründe dafür an, warum er nicht in die Gouverneurs-Residenz nach Lansing gezogen ist, sondern in der Nähe der deutlich attraktiveren Demokraten-Hochburg blieb. Im Landkreis Washtenaw, zu dem Ann Arbor gehört, erhielt er trotzdem nur knapp 42 Prozent der Stimmen; sein demokratischer Herausforderer Mark Schauer, ein Berufspolitiker aus der Cornflakes-Stadt Battle Creek, kam auf über 56 Prozent. Im Bundesstaat insgesamt siegte Snyder mit 51 Prozent; Schauer erreichte nur 47 Prozent. Snyder hatte am Anfang seiner Amtszeit zwar viel Schelte bezogen, als er einen Einheitssteuersatz für Unternehmen eingeführt und dafür Pensionen besteuert hatte; in jüngster Zeit bekam er aber gute Noten für wirtschaftliche Initiativen sowie seine Führungsrolle bei der Bewältigung der Finanzkrise von Detroit.

Gänzlich ohne Überraschungen ging die Wahl des neuen Bürgermeisters in Ann Arbor aus. Der bisherige Mayor John Hieftje hatte sich nach 14 Jahren im Amt zurückgezogen, und der demokratische Stadtrat Christopher Taylor kandidierte über längere Zeit konkurrenzlos. Er erhielt 84 Prozent der Stimmen. Der einzige Gegenkandidat, ein jugendlicher Autor und Musiker namens Bryan Kelly, war nach eigenem Bekunden ins Rennen eingestiegen, damit der Wähler eine Wahl hatte. Auf seiner Facebook-Seite verabschiedete er sich mit „Peace“.

Sunday, November 9, 2014

Feiern mit Sekt und Gurken

„Sind das vielleicht Gurken aus dem Spreewald?“ „Nee, aus Holland.“

ZITAT aus dem Film „Good Bye Lenin!“ aus dem Jahr 2003, den wir gestern zum Mauerfall-Jubiläum wieder einmal ansahen. Dazu tranken wir natürlich Sekt. Nein, keinen Rotkäppchen-Sekt, sondern Korbel. Man muss es mit dem Schwelgen in Erinnerungen nicht übertreiben. Trotzdem: Für mich ist die gelungene deutsche Revolution ein Grund, warum ich auf mein Heimatland stolz bin. „It was a time of great optimism“, sagte ein Geschichtsprofessor bei einer kleinen Gedenkveranstaltung am Donnerstag an der Oakland University, und ich denke, dieses Ereignis hat mich geprägt. Es hat mir Vertrauen und Zuversicht gegeben und das Bewusstsein, dass sich Dinge ändern können und nicht alles schiefgehen muss. „Träume können wahr werden. Nichts muss so bleiben wie es ist“, sagte Angela Merkel heute bei der Gedenkfeier in Berlin. Und was für eine gelungene Feier das war, mit den Ballons der Lichtgrenze, Beethoven und heiterer Besinnlichkeit. Daran änderte auch Michail Gorbatschow in seiner Rolle als Party-Pooper nichts. 25 Jahre! „Hälfte des Lebens“, bemerkte mein Mann vorhin. Obwohl wir damals eigentlich andere Dinge im Kopf hatten - ich schrieb gerade meine Magisterarbeit und bereitete mich anschließend auf meine mündlichen Prüfungen vor, mein künftiger Mann schrieb seine Doktorarbeit zu Ende,- es waren doch wunderbare Zeiten, und es tat sich was. „Der Wind der Veränderung blies bis in die Ruinen unserer Republik. Der Sommer kam und Berlin war der schönste Platz auf Erden. Wir hatten das Gefühl im Mittelpunkt der Welt zu stehen. Dort wo sich endlich was bewegte. Und wir bewegten uns mit.“ Ich war zwar nicht in Berlin, aber alles schien möglich, damals. „Im Sommer 1990 überzeugte die deutsche Nationalmannschaft mit Planübererfüllung und wurde Fußballweltmeister.“ Die Party wollte gar kein Ende mehr nehmen, während ich versuchte, mich auf meine Prüfungen zu konzentrieren. Davon träume ich heute noch manchmal: Prüfungsangst ist ein hartnäckiges Gefühl. Aber alles ging gut. Zur Feier des Tages aßen wir auch noch ein paar Essiggürkchen - von Hengstenberg, meiner Lieblingsmarke, die in Metro Detroit in vielen Supermärkten erhältlich ist.


Monday, November 3, 2014

In Ann Arbor geht die Ära Hieftje zu Ende

Im Online-Vorlesungsverzeichnis der University of Michigan findet sich ein Kurs über Kommunalverwaltung und Bürgerbeteiligung. Kursbeginn: Anfang Januar. Der Name des Dozenten? John Hieftje, „derzeit der Bürgermeister von Ann Arbor“, wie es in der Kurzbiografie heißt. Die Universität muss die Webseite bald aktualisieren, denn bereits am 10. November wird es offiziell einen neuen Mayor geben. Der 63-jährige Hieftje will sich dann auf die Lehrtätigkeit, schon vorher sein zweites berufliches Standbein, konzentrieren. Vorerst jedenfalls.

Die Abschiedsparty für John Hieftje ist schon geplant: Sechs Mal wurde er im Amt bestätigt, aber ein siebtes Mal wird es nicht geben – sein Nachfolger wird morgen gewählt. Und was kommt dann? Dass er als Bürgermeister aufhöre, bedeute nicht, dass er sich aus dem Berufsleben zurückziehe, betonte Hieftje bei einem Telefongespräch. Er habe einige Eisen im Feuer; Näheres will er dazu nicht sagen. Kein Ruhestand also, aber wie ernst ist es ihm mit dem Rückzug aus der Politik? Will er seine Karriere vielleicht auf anderer Ebene fortsetzen? Nein, er habe nicht vor, noch einmal für ein politisches Amt zu kandidieren, sagt der Demokrat, der in „A2“ 14 Jahre lang eine solide grüne Kommunalpolitik machte. „Ich nehme Abstand von der Politik“, sagt Hieftje in jenem gelassen-heiteren Ton, der für ihn typisch ist.

John Hieftje ist eher ein Mann der leisen Töne – „soft-spoken“ heißt das auf Englisch, und genau mit diesem Ausdruck wird er in der lokalen Presse oft beschrieben. Das heißt aber nicht, dass es ihm an Selbstsicherheit mangelt. Hieftje gab schon vor Jahr und Tag bekannt, dass er kein weiteres Mal kandidieren würde, und wenn man ihn dann fragt, warum er die Entscheidung in der laufenden Amtsperiode getroffen und damit nicht noch etwas gewartet habe, gibt er die einfache Antwort: „Alles, was ich mir vorgenommen habe, ist getan.“

Das mag nun etwas überraschen, denn Hieftje hat sicher vieles auf den Weg gebracht, aber bei etlichen Projekten ist das Ziel in weiter Ferne. Auf die schnellere Zugverbindung nach Chicago etwa wartet Ann Arbor noch; sie soll erst im Jahr 2016 oder später kommen. „Das sind Bundesgelder“, so Hieftje, da habe man wenig Einfluss darauf. Er sei dem Gouverneur von Florida – einem Republikaner – jedenfalls unendlich dankbar, dass dieser Regierungsinvestitionen in den Bahnausbau ablehnte, „denn deswegen bekommen wir 200 Millionen Dollar extra“. Er ist daher zuversichtlich, das Ann Arbor irgendwann einen neuen Bahnhof bekommt, und dass es mit dem Ausbau des Schienennahverkehrs bald vorangeht.

Hieftje sagt aber auch oft, dass er das Glück hatte, auf die Arbeit fähiger Bürgermeister und Stadträte vor ihm aufzubauen – die hohe Lebensqualität in Ann Arbor sei nicht über Nacht entstanden und auch nicht in den letzten 14 Jahren. Gerade in jüngster Zeit konnte die Stadt im Südwesten der Autometropole Detroit eine Reihe von Auszeichnungen einheimsen, die belegen, dass einiges richtig gelaufen sein muss: So wurde Ann Arbor erst kürzlich vom Wirtschaftsmagazin „Forbes“ zur gebildetsten Stadt Amerikas ernannt; von anderer Seite gab es hohe Platzierungen für Fußgängerfreundlichkeit sowie das Radwegenetz. Und das Onlinemagazin „The Daily Beast“ erklärte Ann Arbor schon 2012 zur fünftglücklichsten Stadt Amerikas, nicht zuletzt wegen der im regionalen und nationalen Vergleich niedrigen Arbeitslosenquote, die inzwischen deutlich unter fünf Prozent liegt.

Das war aber nicht immer so. Als Hieftje ins Amt kam, befand sich Michigan bereits in einer Dauerrezession, und in Zusammenarbeit mit dem damaligen City Administrator, dem Stadtverwalter, begann Hieftje, die Verwaltung zu verschlanken. Das war ein Prozess, der eigentlich nie ganz aufhörte, und im Jahr 2007 noch einmal drastisch beschleunigt werden musste: Noch vor der Finanzkrise beschloss der Pharmakonzern Pfizer, seinen Standort in Ann Arbor aufzugeben, wodurch 2500 Arbeitsplatz verloren gingen und im Finanzhaushalt der Stadt plötzlich ein riesiges Loch klaffte. „Und dann ging alles den Bach runter“, erinnert sich Hieftje. Allerdings war die Stadt, die Übung im Sparen hatte, besser für die Krise gerüstet als andere Kommunen in Michigan und erholte sich früher wieder von der Großen Rezession. Das sei auch der Grund, warum er sich nicht schon 2012 verabschiedet habe: Er wollte sicher gehen, dass alles wieder im Lot sei, und außerdem musste sich damals gerade ein neuer City Administrator einarbeiten.

Kontinuität ist wichtig für Hieftje, und die erhofft er sich auch von seinem Nachfolger im Amt. Neuer Bürgermeister wird aller Wahrscheinlichkeit nach der Rechtsanwalt und jetzige Stadtrat Christopher Taylor, der sich bei den Vorwahlen im August gegen seine Konkurrenten von der demokratischen Partei durchsetzte. Die Republikaner haben keinen Kandidaten aufgestellt; Taylors einziger Gegenkandidat ist der unabhängige Bryan Kelly, Blogautor und Musiker, dessen Kampagne auf Facebook aber eher als Spaß-Event daherkommt.

Christopher Taylor hat bereits öffentlich bestätigt, dass er die vom bisherigen Bürgermeister und der Stadtverwaltung angestrebten Ziel weiter verfolgen wird. Dazu gehören die ökologischen Projekte genauso wie die Bemühungen, Ann Arbor als Standort für Hightech-Firmen noch attraktiver zu machen, was auch in Zusammenarbeit mit der Uni geschehen soll. Taylor wird sicher auch weiterführen, was für Hieftje Herzensanliegen, Steckenpferd und Markenzeichen in einem war: die mit Grundsteuer finanzierte Bekämpfung von Flächenfraß und Zersiedelung durch einen „grünen Gürtel“ im Norden der Stadt, der neben naturnahen Gebieten auch landwirtschaftliche Nutzfläche konserviert.

Auch wenn er nicht mehr Bürgermeister ist, will Hieftje der Stadt Ann Arbor treu bleiben. Er hofft aber, dass er in Zukunft öfters „in den Norden fahren“ kann, was bei Naturliebhabern in Michigan allgemein populär ist: Die Familie besitzt ein Wochenendhaus am Lake Superior, also am nördlichsten der Großen Seen, und zwar auf der kanadischen Seite. Und wie sieht es mit Reisen nach Deutschland aus, sprich: Tübingen? Ann Arbor ist die Partnerstadt der schwäbischen Universitätsstadt am Neckar. Seine Frau Kathryn habe fest vor, zum 50er-Jubiläum der Städtpartnerschaft in die Sister City zu fahren, sagt Hieftje. Er selbst muss noch sehen, wie es in seinen Terminkalender passt.

Aus dem Archiv: Umweltfreundlich made in USA

Tuesday, October 28, 2014

Ein paar Beobachtungen zu Redefreiheit

Kürzlich kam ein Prediger auf den Campus. Mit „Prediger“ meine ich nicht einen Priester oder Pfarrer, der das Wort vorwiegend an seine Gemeinde richtet, sondern einen dieser selbsternannten Propheten, die ungefragt den öffentlichen Raum beschallen. Der Mann war leicht übergewichtig und hätte vom Alter her gerade noch als Student durchgehen können. Er stand auf einem Plastikschemel, schwenkte eine Bibel und verkündete den studentischen Passanten, sie würden alle zur Hölle fahren. Weil: Sünder! In meine Richtung schrie er auch etwas, was ich aber geflissentlich überhörte. Außerdem war ich mit den Gedanken bereits bei meinem nächsten Kurs.

Von meinem Klassenzimmer aus hatte ich dann allerdings genau die Szene im Blick, und ich konnte beobachten, wie sich ein Auflauf um den Prediger bildete. Auf dem Rasen vor dem Hörsaalgebäude war noch eine andere Veranstaltung im Gange, und es schien heiße Diskussionen zu geben. Zwischendurch kam es zu kleineren Tumulten, bei denen der Prediger in der Menschenmenge nicht mehr auszumachen war – das mit dem „cesspool of sin“ wollten wohl nicht alle so einfach auf sich sitzen lassen.

Klar, dass schon bald ein Polizeiwagen ins Bild kam, der ganz langsam auf dem Gehweg in Richtung des Rasenstücks rollte, auf dem der Prediger samt Publikum zugange war. Die Polizei unternahm allerdings nichts, und war bald wieder weg. Irgendwann zerstreute sich auch die Menge wieder, und der Redner trollte sich. Oder es war umgekehrt – jedenfalls schaffte es der Vorfall dank der Polizeipräsenz in die Unizeitung. Der Mann sei kein Student, stand in dem Artikel, was aber nichts am Ausgang der Geschichte änderte: „Nothing was done because he was not violating any laws“, zitierte das Blatt eine Ordnungshüterin, „he was expressing his free speech rights.“

Gestern Nachmittag schaute ich zufällig aus dem Hörsaalfenster und bemerkte einen kleinen Menschenauflauf auf dem Rasen. Tatsächlich, da stand schon wieder dieser Kerl auf seinem Stühlchen und strapazierte die Umgebung mit der Ausübung seiner Redefreiheit. Auch diesmal kam bald Bewegung in die Sache. Als ich noch einmal hinguckte, meinte ich, in dem Getümmel gar Batman und Superman zu erkennen, die gegeneinander kämpften. Vielleicht hatte ich mich auch getäuscht. Egal. Ich musste mich nun wirklich auf meinen Unterricht konzentrieren. Die Polizei erschien diesmal aber nicht, so viel bekam ich mit.

Nach dem Kurs führte mich mein Weg zum Parkhaus, ohne dass ich es wirklich gewollt hätte, am Ort des Geschehens vorbei. Es war ein milder Herbstnachmittag, und um die ursprüngliche Gruppe hatte sich ein weiterer Kreis von Zuschauern gebildet, die nicht wirklich involviert waren, sondern einfach in der Sonne standen und das Spektakel genossen. Inzwischen hatte sich nämlich das Blatt gewendet: Da war zwar immer noch der Prediger, der wirres und hasserfülltes Zeug redete; inzwischen hatte er aber Konkurrenz bekommen von einem langhaarigen jungen Mann mit einer Gitarre und einer deutlich froheren Botschaft. „Jesus liebt dich“, rief er freudestrahlend in die Menge. Dann griff der Jesus-Hippie in die Klampfe und sang, was das Zeug hielt, wobei er den Prediger mühelos übertönte.

Die Umstehenden applaudierten, und auch die Comic-Superhelden hatten sich längst auf die Seite des guten Propheten geschlagen – sie sprangen um ihn herum wie Hofnarren. Übrigens handelte es sich dabei um Spiderman sowie Captain America, und nicht etwa, wie ich zuerst gedacht hatte, um Batman und Superman. Letztere brauchte man wahrscheinlich immer noch in Detroit, wo gerade „Batman v Superman: Dawn of Justice“ abgedreht wird. Eine Inspiration für Halloween-Kostüme sind Superhelden allemal. Und auch für allerlei Klamauk auf dem Campus stets zu gebrauchen.

Neben mir stand einer meiner Studenten, der ebenfalls die Szene in sich aufnahm. „Freedom of speech“, bemerkte ich, „isn’t that beautiful?“ „Yeah“, sagte er, und mit Blick auf die Superhelden sowie das ganze lärmende Durcheinander im goldenen Herbstlicht: „This is America!“

Freilich. Es ist das Land, in dem Redefreiheit groß geschrieben wird. Und wer am lautesten seine Meinung vertritt, gewinnt. Auch wenn das nicht immer der Nettere ist.

Thursday, September 25, 2014

Wasserstandsmeldung

„I live in the Detroit area, and for all our economic and structural problems, at least we have lots of fresh water and high ground. Ironic that we may become a shining, new metropolis in the future should carbon and sea level projections hold. In the meantime, I call attention to climate change deniers the fact that insurance companies, major corporations and even the Pentagon are making contingency plans for the potential, unmitigated effects of what the deniers call a ,natural cycle.‘ Go ahead, vote Republican, but make sure you keep a snorkel on your nightstand. Depending where you happen to live, that is. Trouble is, it'll be our children that bear the greatest burden.“

KOMMENTAR von User „vonstipatz“ zur Kolumne von Gail Collins in der „New York Times“, Titel: „Florida Goes Down the Drain. The Politics of Climate Change.“ Die Metapher in der Artikelüberschrift ist nett gewählt, denn Florida geht genau deswegen den Bach runter, weil das Meer bei Flut den Gully hochkommt. Bei der herbstlichen „King Tide“ sind die Straßen von Miami Beach jetzt regelmäßig überflutet, und das ist schlecht fürs Geschäft. In die angesagten Clubs geht keiner in Gummistiefeln, außerdem rosten die Nobelkarossen. Vor allem an der Atlantikküste kann man die Folgen des Klimawandels bereits besichtigen – der bedrohliche Anstieg des Meeresspiegels ist längst keine düstere Prophezeiung mehr, sondern kostspielige Realität. Deswegen kann es schon sein, dass man die Brachflächen in Detroit noch einmal braucht. Da kommt zwar nach Dauerregen auch schon einmal Wasser aus den Abflussrohren, wie man am 11. August gesehen hat, aber das passiert hoffentlich nicht oft. Und auch das Grundwasser ist anschließend nicht versalzen.

Wednesday, August 27, 2014

Eiskalt erwischt

Nachdem mein Mann heute nach Hause gekommen war, verzog er sich alsbald an den Schreibtisch, um Nachrichten am Computer zu lesen. Kurz darauf ertönte schallendes Gelächter aus dem Arbeitszimmer. Er musste so heftig lachen, dass ich sofort nachsehen ging, was los war. Man will ja schließlich mitlachen können. Wie sich herausstellte, war es Cem Özdemirs Beitrag zur „Ice Bucket Challenge“, was ihn so erheiterte.

Prominenz verpflichtet, und so hatte sich der Grünen-Chef zwar tapfer einen Kübel Wasser über den Kopf geschüttet, aber dabei die Kulisse für diese Aktion im Dienste einer guten Sache etwas ungeschickt gewählt. Auf dem Berliner Dachgarten, wo die seltsame Performance gefilmt wurde, sieht man nämlich nicht nur Solarzellen im Hintergrund, sondern auch etwas Grünzeug im Vordergrund. Und was da direkt neben Özdemir steht, ist gewiss keine typische Balkonpflanze: Die gefiederten Blättchen in dem unscharfen Youtube-Filmchen sehen doch sehr nach Hanf aus. Baut Cem etwa für den Hausgebrauch Cannabis an? Wahrscheinlich nicht – sonst hätte er sich wohl nicht daneben gestellt.

Vielleicht gibt es auch auf Berliner Dachterrassen neuerdings Kleingärtenanlagen. Wer weiß. Aber noch etwas anderes fällt beim Ansehen des Videos auf: Irgendwie ist die Idee von der Ice-Bucket-Dusche in Deutschland etwas verwässert angekommen, um im Bild zu bleiben. Wohlgemerkt, ich finde diese Aktion im Schneeballsystem ausgesprochen wirkungsvoll, um auf das Nervenleiden ALS aufmerksam zu machen. Lost in translation ist allerdings, dass dabei eigentlich ein Kübel mit Eiswürfeln zum Einsatz kommt. Aber in Deutschland gibt es bekanntlich keine Eiswürfel, jedenfalls nicht so viele. Oder Cem Özdemir wusste auch darüber nicht Bescheid. „So ein Warmduscher“, sagt mein Mann.

Tuesday, August 12, 2014

Wasserstraßen oder: Nicht zu fassen, dieser Regen

„When our freeways need dive teams it might be a work from home day. #Detroit #Flood“

TWEET eines jungen Mannes namens Ryan Bateman, der laut Selbstbeschreibung bei Compuware in Downtown Detroit arbeitet und heute morgen nicht zur Arbeit konnte, weil nahezu sämtliche Autobahnen überflutet waren. Die Bilder und Berichte von der Flutkatastrophe sind surreal. Straßen, die sich in Flüsse verwandelt haben. Gestrandete Autos. Vollgelaufene Keller. Wir sind hier noch einmal glimpflich davon gekommen, und so haben wir erst heute morgen richtig realisiert, was der Starkregen von gestern Nachmittag in anderen Teilen der Metropole angerichtet hat. Soweit bekannt wurde, kam ein Mensch ums Leben. Vor allem in Brückenunterführungen steht das Wasser indessen meterhoch, und deswegen sollten Taucher heute Morgen sicher stellen, dass es dort keine weiteren Opfer gab.

Tuesday, July 8, 2014

#Siebenzueins

Während unserer Genfer Zeit wohnten wir in einem großen Mietshaus, wo neben Gastspielern aus aller Herren Länder sowie den ortsüblichen Französischsprachigen auch etliche Deutschschweizer ihr Domizil hatten. Public Viewing war damals noch nicht en vogue. Aber bei Fußballspielen zur Sommerzeit, wenn die Fenster offen standen, kam es doch zu einem gemeinschaftlichen Sporterlebnis. Und dazu musste man nicht einmal den Fernseher anschalten. „Büt, büüt“, schrien die Welschen, wenn ein Tor fiel. „Gool, goool“, tönte es gleichzeitig aus den Wohnungen der Deutschschweizer. In der Tat, wenn es um le football geht, klingt das französische Wort „le but“ tatsächlich wie „butte“. Und die Deutschschweizer sprechen bis heute von einem Goal, weil sie den Fußballsport im 19. Jahrhundert direkt aus dem Vereinigten Königreich importierten. Der FC St. Gallen, der älteste Schweizer Fußballclub, wurde im Jahr 1879 von Briten mitbegründet. Das habe ich mir, räusper, soeben angelesen. Endlich verstehe ich auch, wie es zu anglofonen Vereinsnamen wie dem Grasshopper Club Zürich kam. Danke, Wikipedia! Man lernt doch nie aus.

Der polyglotte Fußballsommer, an den ich mich so lebhaft erinnern kann, war wohl die Weltmeisterschaft im Jahr 1994. Wer da jeweils für wen jubelte, ließ sich schon damals nicht immer genau sagen, aber es spielte auch keine Rolle: Im Schweizer Sport kennt man den Begriff „ehrenvolle Niederlage“. Am nächsten Tag stand’s dann im Boulevardblatt „Blick“, und das Leben ging ganz normal weiter.

Zwanzig Jahre ist das her. Kaum zu glauben. Die WM 2014 wird einem mit Sicherheit ebenfalls unvergesslich bleiben: Auf den Riesenbildschirmen von amerikanischen Pubs gab's plötzlich Soccer! Aber an einem Dienstagnachmittag sitzt man nicht in der Kneipe, und so hätte ich mir zu #WorldCup #GERBRA beinahe wieder Kabelfernsehen gewünscht. Das ist noch nicht oft vorgekommen. Als die Umstellung auf Digital-TV erfolgte, haben wir das Gerät samt Kabel-Abo abgeschafft – und eigentlich nie vermisst. Das Schützenfest heute Nachmittag ließ sich auf SPON und Twitter allerdings nur mühsam verfolgen. In dem Tempo, wie die Tore fielen, konnte man gar nicht aktualisieren. Und die Blitzkrieg-Witze im Netz waren auch nicht sehr originell.

Und jetzt all die Bilder von den heulenden Brasilianern. Der kleine Junge, der in seine Cola schnieft – das kann ich ja noch nachvollziehen. Aber dass ein ganzes Land in Trauer versinkt, das schon weniger. Es wird mit Krawallen gerechnet. Was ist das für ein Sportsgeist? Wer nicht verlieren kann, soll auch nicht spielen. Genau das ist das Faszinierende am „Sommermärchen“ von 2006, als der Gastgeber Deutschland zwar nur den dritten Platz belegte, aber die Fans trotzdem bis zum Finale weiter feierten. Alles nur ein Spiel. Das sollte man auch dem Bundestrainer einmal sagen. Bitte lächeln, Herr Löw!

Nachtrag vom 13. Juli: Jetzt strahlt sogar Jogi Löw. Wer zuletzt lacht, wird Weltmeister.

Sunday, March 9, 2014

Zeitumstellung und Beginn der Grillsaison

Von der Terrasse auf der anderen Reihenhausseite steigen Rauchschwaden auf – mein Nachbar von gegenüber grillt. Wahrscheinlich konnte er es schon lange kaum mehr erwarten, die Grillsaison wieder zu eröffnen, und am Tag der Umstellung auf Sommerzeit musste es einfach sein.

Man sollte allerdings dazu sagen, dass der Herr Nachbar zwar im Freien grillt, der Verzehr des Grillgutes aber garantiert für drinnen geplant ist. Es ist März, gewiss, aber draußen vor meinem Fenster ist alles noch winterlich weiß, und auf dem Mäuerchen rund um die nachbarliche Terrasse liegt zirka ein halber Meter Schnee. Außerdem ist es so kalt, dass das Eis auch neben dem mächtigen Grill nicht sofort schmilzt.

Macht nix. Wir sind hier in Michigan, wo Eisfischen als eines der beliebtesten Hobbys gilt und nicht wenige Leute, wahrscheinlich die Eisfischer, den Winter als ihre Lieblingsjahreszeit bezeichnen. Auch wegen Eishockey, wobei man das auch im Sommer spielen kann. Mit dem Grillen verhält es sich ganz ähnlich, nur anders herum, denn das geht notfalls auch als Wintersport.

Tuesday, February 25, 2014

John Dingell, ein politisches Urgestein aus Michigan

Vor gut zehn Jahren, Anfang Februar 2004, war ich bei einer Wahlkampfveranstaltung von John Kerry in der Detroiter Vorstadt Warren. Das war noch während der Vorwahlen, ein paar Tage nachdem Howard Dean seinen markerschütternden Schrei ausgestoßen und sich damit als demokratischer Präsidentschaftskandidat unmöglich gemacht hatte. Kerry erschien damals schon als der Frontrunner, war aber noch überraschend zugänglich. Jedenfalls konnte ich auch ohne offizielle Pressezulassung mühelos Nahaufnahmen von ihm machen. Im Hinblick auf die Einstiegs-Digitalkamera, die ich damals besaß, eine gute Sache. Die Sicherheitsmaßnahmen waren eindeutig weniger streng als bei Wahlen in der jüngeren Vergangenheit. Ich traf bei der Gelegenheit auch die damalige Gouverneurin Jennifer Granholm sowie Carl Levin, den Senior Senator von Michigan. Als ich nach der Veranstaltung die Halle wieder verließ, begegnete mir ein weiterer Politiker, dessen beinahe kahlköpfige Erscheinung mir aus der Zeitung wohlvertraut war. Das war der Kongressabgeordnete John Dingell. Er grüßte mich mit einem jovialen „Good morning, young woman!“, was mich sehr erheiterte.

Aus der Sicht eines John Dingell war die Anrede „junge Frau“ natürlich berechtigt. In dem Jahr, als ich geboren wurde, konnte der gute Mann bereits sein siebtes Dienstjubiläum feiern. Mit über 58 Amtsjahren ist Dingell, Jahrgang 1926, nicht nur das dienstälteste Mitglied des US-Repräsentantenhauses, der Demokrat hält auch noch weitere Rekorde: Niemand gehörte länger ununterbrochen dem Kongress an, niemand war länger Dean of the House und so fort.

Im Dezember 1955 hatte Dingell zunächst bei einer Sonderwahl den Sitz seines verstorbenen Vaters gewonnen, und 1956 wurde er dann für eine volle Amtszeit wieder gewählt. Weil Amerika seine Kongressabgeordneten alle zwei Jahre zur Wahl antreten lässt, wurde er somit 29 Mal im Amt bestätigt. Eine 30. Wiederwahl wird es allerdings nicht geben: Wie John Dingell gestern bekannt gab, will er sich zum Ende der Legislaturperiode in den Ruhestand zurückziehen. Mit 87 Jahren darf man da schon einmal daran denken – in zwei Jahren kann allerhand passieren. Planungssicherheit gibt‘s in dem Alter nicht mehr. „I’ve reached the age when people don’t buy green bananas,” scherzte Dingell laut Zeitungsberichten.

Allerdings ist nicht auszuschließen, dass der Sitz weiterhin in der Familie bleibt. Es heißt, dass sich John Dingells Frau Debbie als Kandidatin aufstellen lassen will – Debbie Dingell ist Jahrgang 1954. Falls sie tatsächlich für die Demokraten anträte, was sich aber erst bei den Vorwahlen entscheidet, und wenn sie dann im November gewinnen würde, wäre sie die erste Kongressabgeordnete, die dem Gatten noch zu dessen Lebzeiten im Amt nachfolgt. Falls er bis dahin noch lebt.