Tuesday, October 28, 2014

Ein paar Beobachtungen zu Redefreiheit

Kürzlich kam ein Prediger auf den Campus. Mit „Prediger“ meine ich nicht einen Priester oder Pfarrer, der das Wort vorwiegend an seine Gemeinde richtet, sondern einen dieser selbsternannten Propheten, die ungefragt den öffentlichen Raum beschallen. Der Mann war leicht übergewichtig und hätte vom Alter her gerade noch als Student durchgehen können. Er stand auf einem Plastikschemel, schwenkte eine Bibel und verkündete den studentischen Passanten, sie würden alle zur Hölle fahren. Weil: Sünder! In meine Richtung schrie er auch etwas, was ich aber geflissentlich überhörte. Außerdem war ich mit den Gedanken bereits bei meinem nächsten Kurs.

Von meinem Klassenzimmer aus hatte ich dann allerdings genau die Szene im Blick, und ich konnte beobachten, wie sich ein Auflauf um den Prediger bildete. Auf dem Rasen vor dem Hörsaalgebäude war noch eine andere Veranstaltung im Gange, und es schien heiße Diskussionen zu geben. Zwischendurch kam es zu kleineren Tumulten, bei denen der Prediger in der Menschenmenge nicht mehr auszumachen war – das mit dem „cesspool of sin“ wollten wohl nicht alle so einfach auf sich sitzen lassen.

Klar, dass schon bald ein Polizeiwagen ins Bild kam, der ganz langsam auf dem Gehweg in Richtung des Rasenstücks rollte, auf dem der Prediger samt Publikum zugange war. Die Polizei unternahm allerdings nichts, und war bald wieder weg. Irgendwann zerstreute sich auch die Menge wieder, und der Redner trollte sich. Oder es war umgekehrt – jedenfalls schaffte es der Vorfall dank der Polizeipräsenz in die Unizeitung. Der Mann sei kein Student, stand in dem Artikel, was aber nichts am Ausgang der Geschichte änderte: „Nothing was done because he was not violating any laws“, zitierte das Blatt eine Ordnungshüterin, „he was expressing his free speech rights.“

Gestern Nachmittag schaute ich zufällig aus dem Hörsaalfenster und bemerkte einen kleinen Menschenauflauf auf dem Rasen. Tatsächlich, da stand schon wieder dieser Kerl auf seinem Stühlchen und strapazierte die Umgebung mit der Ausübung seiner Redefreiheit. Auch diesmal kam bald Bewegung in die Sache. Als ich noch einmal hinguckte, meinte ich, in dem Getümmel gar Batman und Superman zu erkennen, die gegeneinander kämpften. Vielleicht hatte ich mich auch getäuscht. Egal. Ich musste mich nun wirklich auf meinen Unterricht konzentrieren. Die Polizei erschien diesmal aber nicht, so viel bekam ich mit.

Nach dem Kurs führte mich mein Weg zum Parkhaus, ohne dass ich es wirklich gewollt hätte, am Ort des Geschehens vorbei. Es war ein milder Herbstnachmittag, und um die ursprüngliche Gruppe hatte sich ein weiterer Kreis von Zuschauern gebildet, die nicht wirklich involviert waren, sondern einfach in der Sonne standen und das Spektakel genossen. Inzwischen hatte sich nämlich das Blatt gewendet: Da war zwar immer noch der Prediger, der wirres und hasserfülltes Zeug redete; inzwischen hatte er aber Konkurrenz bekommen von einem langhaarigen jungen Mann mit einer Gitarre und einer deutlich froheren Botschaft. „Jesus liebt dich“, rief er freudestrahlend in die Menge. Dann griff der Jesus-Hippie in die Klampfe und sang, was das Zeug hielt, wobei er den Prediger mühelos übertönte.

Die Umstehenden applaudierten, und auch die Comic-Superhelden hatten sich längst auf die Seite des guten Propheten geschlagen – sie sprangen um ihn herum wie Hofnarren. Übrigens handelte es sich dabei um Spiderman sowie Captain America, und nicht etwa, wie ich zuerst gedacht hatte, um Batman und Superman. Letztere brauchte man wahrscheinlich immer noch in Detroit, wo gerade „Batman v Superman: Dawn of Justice“ abgedreht wird. Eine Inspiration für Halloween-Kostüme sind Superhelden allemal. Und auch für allerlei Klamauk auf dem Campus stets zu gebrauchen.

Neben mir stand einer meiner Studenten, der ebenfalls die Szene in sich aufnahm. „Freedom of speech“, bemerkte ich, „isn’t that beautiful?“ „Yeah“, sagte er, und mit Blick auf die Superhelden sowie das ganze lärmende Durcheinander im goldenen Herbstlicht: „This is America!“

Freilich. Es ist das Land, in dem Redefreiheit groß geschrieben wird. Und wer am lautesten seine Meinung vertritt, gewinnt. Auch wenn das nicht immer der Nettere ist.