Thursday, October 19, 2006

Standortbestimmung

Als ich mich einst anschickte, in die USA auszuwandern, reagierten Freunde und Bekannte recht unterschiedlich auf diesen Schritt. Einige bedauerten mich. Andere konnten die Entscheidung nachvollziehen – immerhin arbeitete mein Mann schon in Detroit. Und eine Kollegin gestand mir eines Tages rundheraus, sie beneide mich: „Alles hinter sich lassen und irgendwo noch einmal ganz neu anfangen – das wäre mein Traum!“

Der Umzug in ein anderes Land als Neuanfang: Darauf haben schon viele gehofft. Äußerlich ist zunächst tatsächlich vieles neu: die Wohnung, die Umgebung, die Nachbarn, die Schule der Kinder. Gerade die Frauen, die ihren Ehemann beim Auslandsaufenthalt begleiten, haben alle Hände voll zu tun: Ein kompletter Haushalt muss – bei völlig neuer Versuchsanordnung – wieder zum Laufen gebracht werden. Und der Mann? Der geht einfach in ein anderes Büro. Seine Frau unternimmt derweil lustige Experimente mit amerikanischen Küchengeräten oder lernt, was ein Transformator ist. Zum Glück besitzen die Relocaterinnen ganze Ordner voll mit nützlichen Anleitungen, inklusive einer Umrechnungstabelle für Backofentemperaturen. Meist haben sie auch Hinweise parat, was man wo kriegt. Damit nicht jede Einkaufsfahrt zur Expedition wird. Denn die Familienmitglieder wollen satt werden, nicht Testesser spielen.

Dass Relocationfirmen neben praktischer Alltagshilfe oft noch interkulturelles Training für mitreisende Ehefrauen anbieten, halte ich für ausgesprochen sinnvoll. Das mildert den Kulturschock, erspart so manche frustrierende Erfahrung und hält den Kopf frei für Wichtigeres: Im Idealfall schafft es den nötigen Freiraum, damit die Frauen auch ganz persönlich vom neuen Umfeld profitieren können. Und nicht unversehens wieder in den alten Trott fallen, im schmucken neuen Heim. Denn wir wissen es längst: Ein Umzug über Ländergrenzen bedeutet keinesfalls, dass im Leben alles automatisch anders und besser wird. Und das liegt nicht zuletzt an uns selbst. Egal, wohin wir gehen, unsere persönlichen Eigenschaften und Erfahrungen haben wir immer im Gepäck.

Wenn ich mit deutschen Expat-Frauen hier in Metro Detroit rede, bin ich immer wieder überrascht, wie viel Berufserfahrung und Spezialwissen, wie viel Lebensklugheit und Talent hier versammelt ist. Gleichzeitig bin ich schockiert: Nur ganz selten sind sich diese Frauen nämlich ihrer Fähigkeiten, ihres persönlichen und beruflichen Potenzials bewusst. „Aber das ist doch nichts Besonderes“, höre ich immer wieder. Tiefstapelei – eine typisch weibliche Eigenschaft. Das erinnert mich an meine Zeit als Lokaljournalistin. Ich habe oft über ehrenamtliche Tätigkeiten geschrieben, und nicht selten musste ich meinen Gesprächspartnerinnen aus Kirchengemeinden und Vereinen erst gut zureden, wenn ich am nächsten Tag eine Geschichte in der Zeitung haben wollte.

Die „trailing spouses“ oder „mitausreisenden Ehefrauen“ befinden sich nun allerdings in einer Situation, die das Selbstbewusstsein nicht gerade stärkt: Für den Mann bedeutet die Auslandsentsendung üblicherweise eine Verbesserung in der Position, er steigt also im Status – bei der Frau ist es das genaue Gegenteil, denn sie musste dafür nicht selten ihren Arbeitsplatz kündigen. Kein Wunder, wenn sie sich in der neuen Umgebung nur noch über den berufstätigen Partner definiert. Denn Anerkennung für die eigene Leistung bleibt aus. Außerdem fördert der Auslandsaufenthalt die traditionelle Rollenverteilung: Er geht arbeiten, sie besorgt den Haushalt und kutschiert die Kinder zum Fußball. „Ich bin nur als Anhängsel hier“ – wie oft habe ich das schon gehört!

Aber trotzdem – oder gerade deswegen – bedeutet der Ortswechsel eine einmalige Chance. Da fallen mir immer meine Klamotten ein, die ich vor der Abreise in Koffer und Kisten packte. Als der Container endlich in Detroit ankam und meine geliebten Tweedjäckchen wieder ordentlich im Schrank hingen, wurde ich sehr vergnügt: Klar, das waren immer noch die alten Sachen – aber niemand kannte sie hier! Ich hatte praktisch einen Schrank voll mit neuen Outfits. Ähnlich verhält es sich mit den Bildungsabschlüssen und beruflichen Qualifikationen, die Frauen mitbringen: Im Lichte der neuen Lebensumstände gesehen wirken sie wie neu. Wer weiß, was sich jetzt oder später daraus machen lässt? Man muss nur einmal anfangen, das alles in Ruhe zu sortieren.

Der Auslandsaufenthalt gibt den nötigen Abstand dazu.