Wednesday, November 22, 2006

Turkey Country

Neuankömmlinge in den USA brauchen meist eine kleine Weile, um sich an die neuen Dimensionen zu gewöhnen. Alles so groß hier! Die Autos, die Straßen, die Einkaufszentren und die Plastikbehälter für Orangensaft, die eine Gallone fassen – es gibt kaum etwas, das nicht großzügiger bemessen wäre als in der alten Heimat. Der Kühlschrank schluckt mühelos den Inhalt von dreiundzwanzig Plastiktüten aus dem Supermarkt, und im mehrstöckigen Riesen-Backofen verliert sich die transkontinental umgezogene Auflaufform, die früher knapp in die RöhreEin wohlgeratener Thanksgiving-Turkey © Cornelia Schaible
einer durchschnittlichen deutschen Einbauküche passte. Das irritiert. Ein Trost: Die Verunsicherung hält höchstens bis zum ersten Thanksgiving. Dann macht sie einer neuen Erkenntnis Platz. An diesem Feiertag zeigt sich nämlich, warum alles in Amerika so riesig sein muss, Landschaft inklusive. Und plötzlich passt alles zusammen.

Der Lernprozess startet mit dem Versuch, einen Truthahn in passender Größe zu erwerben. Einen Zwei-Personen-Truthahn, um genau zu sein. Für ein frisch nach Amerika ausgewandertes Ehepaar, das typischerweise weder auf eine Großfamilie noch einen mitessenden Bekanntenkreis zurückgreifen kann, braucht es keinen Riesenvogel. Ein traditioneller Festtagsbraten muss trotzdem sein – lokales Brauchtum verdient Respekt, und damit basta. Dafür braucht’s nicht einmal interkulturelles Training. Also: kein schwindsüchtiges Ersatz-Federvieh, keine Gans und keine Ente. All das können Exil-Deutsche noch an Weihnachten servieren. An Thanksgiving Day muss ein richtiger Truthahn auf den Tisch.

Und so nähert sich der Käufer hoffnungsfroh der gigantischen Kühltheke, in der eine ganze Armada von gerupften Riesenvögeln liegt. Schluck – der zierlichste unter ihnen wiegt vierzehn Pfund. Geht’s nicht auch kleiner? Hilfesuchend wendet man sich an den nächstbesten Supermarktangestellten, der eingedosten Pumpkin Pie ins Regal räumt. „Schätzchen“, sagt der und lächelt mitleidig, „wenn dir das zuviel ist, dann kauf doch eine Putenbrust.“

Eine Putenbrust? Das käme einer Kapitulation gleich. Thanksgiving ohne einen Turkey mit allem Drum und Dran – undenkbar. Dabei ist nicht einmal gesichert, dass die Pilgerväter anno 1621 Truthahn auf dem Menü hatten, als sie mit einem Festtagsschmaus die reiche Ernte feierten und damit die Tradition begründeten. Zum Feiern hatten sie jedenfalls allen Grund: Im Winter zuvor waren einige der Engländer, die an Bord der „Mayflower“ gewesen waren, einfach verhungert. Und hätten ihnen die indianischen Ureinwohner nicht beigebracht, Mais anzubauen, wäre es dem Rest wahrscheinlich genauso ergangen.

Drei Tage lang feierten die neuenglischen Siedler gemeinsam mit den Indianern, das ist schriftlich bezeugt. Da wurde ordentlich aufgetischt: Von Hirschbraten ist die Rede sowie von dem reichlich vorhandenen Geflügel – wahrscheinlich gab’s auch am Spieß gegrillten Truthahn, gewissermaßen als kleinen Happen zwischendurch. Nur von Thanksgiving sprach damals noch keiner; der Begriff bürgerte sich erst später ein. Im Jahr 1863 erklärte Abraham Lincoln das Erntedankfest zum nationalen Feiertag. Erst unter Präsident Franklin D. Roosevelt wurde dann festgelegt, Thanksgiving grundsätzlich am vierten Donnerstag im November zu feiern – nicht etwa am letzten, was nicht immer auf dasselbe herauskommt.

Zu Roosevelts Zeiten war Thanksgiving aber längst Turkey Day. Das hat praktische Gründe: Erst einmal macht so ein Vogel viel her, und im Zentrum einer Festtafel wirkt er überdies kompakter als – um nur ein Beispiel zu nennen – ein Rehrücken. Ein Truthahn ist trotzdem handlich, und man muss ihn nicht selbst schießen. So geht man ans Kühlregal, sucht sich einen aus und wuchtet das Vieh in den Einkaufswagen. Vielleicht schrumpft das Tier ja beim Braten noch ein bisschen. Einkäufe im Auto verstauen – gut, dass die hier zu Lande so geräumig sind, bei einem dieser putzigen deutschen Kleinwagen wäre der Kofferraum jetzt voll. Daheim vorm Kühlschrank wird einem schlagartig klar, was die tiefere Bestimmung dieses äußerlich so schlichten Gerätes ist: Einmal im Jahr muss ein Truthahn reinpassen. Und zwar ohne Wenn und Aber.

Dasselbe gilt für den Backofen, in dem der Vogel gemütlich vor sich hin schmurgelnd ein paar Stunden verbringt. Letztlich erweist sich der Turkey somit als das Maß aller Dinge – zumindest in Amerika: Wäre das Land lediglich auf Grillhähnchen zugeschnitten, sähe alles ganz anders aus. Dann wären auch die Farmen kleiner. Und man bräuchte nicht diese breiten Straßen, auf denen riesige Trucks fahren, die Truthähne transportieren. Selbst die Wälder wären übersichtlicher, lebten darin nicht wilde Turkeys. Oder sind die Truthähne nur deshalb so groß, weil die Wälder…?

Sei’s drum. Nur wer einmal den Braten gerochen hat, wer gesehen hat, was sonst noch alles aufgefahren wird, vom Preiselbeerkompott über den Süßkartoffelauflauf bis zum Kürbiskuchen, kann das Land in seiner ganzen Größe wirklich verstehen. Und kapiert dann auch, warum in den Staaten die Portionen so groß sind: So ein üppiges Mahl wie an Thanksgiving hätten die Amerikaner am liebsten jeden Tag. Wenn auch nicht immer mit Turkey.

Und noch ein Tipp für alle, die ein unamerikanisch zierliches Vögelchen bevorzugen: Im Bio-Supermarkt ist die Pute meistens eine Nummer kleiner – wenn auch ein wenig teurer. Dafür ohne Antibiotika aufgezogen und mit Freilandhaltung bis zum Schlachttag.

Happy Thanksgiving!

Wednesday, November 8, 2006

Ein Stimmprozent für eine Million

„Ein guter Tag für die Demokraten“, titelte die „Ann Arbor News“, die Lokalzeitung aus der Tübinger Partnerstadt, heute in ihrer Online-Ausgabe. Das kann man wohl sagen – schließlich haben demokratische Kandidaten auf fast allen politischen Ebenen abgeräumt: Nicht nur im Repräsentantenhaus in Washington, sondern auch in Lansing im Bundesstaat Michigan stellen Demokraten jetzt die Mehrheit. Somit weiß Gouverneurin Jennifer Granholm künftig zumindest einer Kammer hinter sich, was das Regieren erheblich angenehmer machen dürfte; der Senat in Michigan bleibt republikanisch. Granholm selbst kann sich über ein komfortables Ergebnis freuen: 56 Prozent der Wähler stimmten für die amtierende Demokratin; ihr republikanischer Herausforderer Dick DeVos erhielt 42 Prozent der Stimmen.

Die Höhe des Wahlsieges kam laut Presseberichten selbst für die Anhänger der Amtsinhaberin überraschend. Denn der Geschäftsmann und Milliardär Dick DeVos, dessen Vater die Reinigungsmittelfirma Amway gründete, führte den teuersten Wahlkampf aller Zeiten in Michigan – 41 Millionen Dollar kostete der Spaß. Immerhin 35 Millionen Dollar hatte der Ex-Amway-Präsident dafür aus seinem Privatvermögen beigesteuert. Ein Stimmprozent kostete also knapp eine Million. Sauber!

Worüber unzählige Fernsehspots allerdings nicht hinwegtäuschen konnten: Eine konkrete Agenda ließ DeVos, ein Vertreter der christlichen Rechten, bis zum Schluss vermissen. Trotz schwieriger Wirtschaftslage im Bundesstaat Michigan setzten die Wähler daher wieder auf Granholm, die für den Niedergang der Autoindustrie schließlich nichts kann: "Unsere Wirtschaft hat sich 100 Jahre lang in diese Richtung entwickelt", sagte die Governeurin bei einem Interview. "Wir können jetzt nicht einfach einen Schalter umlegen und die Sache über Nacht verändern." Granholm möchte stattdessen den Strukturwandel in vernünftige Bahnen lenken und mehr Hightechfirmen nach Michigan bringen. Vor allem im Einzugsgebiet der Unistadt Ann Arbor erzielte sie mit dieser Strategie erste Erfolge. Insofern erstaunt es nicht, dass die charismatische Gouverneurin in Washtenaw County, zu dem Ann Arbor gehört, knapp 68 Prozent der Stimmen erhielt.

Noch besser schnitt Bürgermeister John Hieftje ab: Der Demokrat mit grünem Programm wurde mit 79 Prozent im Amt bestätigt. Hieftje, Bürgermeister seit dem Jahr 2000 und schon zum dritten Mal wieder gewählt, will in der kommenden Legislaturperiode neben der Stabilisierung der Stadtfinanzen vor allem seine ökologischen Projekte weiter verfolgen – die Förderung erneuerbarer Energien sowie eine Bahnverbindung zum Flughafen und ins nahe Detroit gehören zu seinen wichtigsten Anliegen. Wenn sie ihn noch ein paarmal wählen, fahren Metro Detroiter irgendwann im Bähnchen nach Ann Arbor zum Bummeln. Und müssen dann aufpassen, dass sie nicht von Radlern über den Haufen gefahren werden. Wie in Tübingen.

In der Unistadt Ann Arbor sorgte am Tag nach der Wahl allerdings ein anderes Thema für Gesprächsstoff: Per Volksentscheid wurde in Michigan auch die so genannte „Affirmative Action“ abgeschafft; 58 Prozent der Wähler befürworteten den Vorschlag. „Affirmative Action“ – ein Begriff, der sich nur schwer ins Deutsche übersetzen lässt und meistens mit „positive Diskriminierung“ wiedergegeben wird – ist eine Quotenregelung, die Minderheiten etwa den Zugang zur Universität erleichtern soll. Nicht nur afroamerikanische Studenten an der „University of Michigan“ zeigten sich über den Ausgang der Abstimmung enttäuscht. Universitätspräsidentin Mary Sue Coleman kündigte an, gerichtlich gegen den Entscheid vorzugehen. „Diversität macht uns stark“, sagte sie in einer Ansprache vor Studenten.

Mehr über John Hieftje, Bürgermeister von Ann Arbor: Ann Arbor, ein grünes Biotop in Amerika

Monday, November 6, 2006

Disappointing Dick

Als Jennifer Granholm im Jahr 2002 zur Governeurin von Michigan gewählt wurde, schien die demokratische Partei einen neuen Star zu haben – wäre sie nicht in Kanada geboren, hätte man sie womöglich als künftige Präsidentschaftskandidatin gehandelt. Jennifer Granholm ist telegen, äußerst eloquent und vertritt ihre Sache stets mit Enthusiasmus. Der unaufhaltsame Niedergang der einheimischen Autoindustrie in Michigan – die japanischen Autobauer errichten ihre Fabriken im Süden des Landes, wo die Gewerkschaften nur wenig Einfluss haben – schadete ihrer Popularität indessen ganz erheblich. Und noch im Sommer sah es aus, als stünde im Bundesstaat Michigan ein Regierungswechsel bevor: Der Republikaner Dick DeVos, Milliardär und Geschäftsmann, lag in Umfragen deutlich vor Granholm.

Seit den drei Fernsehdebatten, bei denen sich die Kandidaten gegenseitig scharf attackierten, hat die Harvard-Absolventin Granholm in der Wählergunst augenscheinlich wieder zugelegt – die Meinungsforscher sehen sie nach jüngsten Umfragen mit mehr 10 Prozentpunkten in Führung. Es mag damit damit zu tun haben, dass DeVos bei der ersten Fernsehdebatte nahezu jeden Satz mit „This is so disappointing“ anfing. Die rhetorisch nicht besonders eindrucksvolle Performance des Herausforderers blieb sicher im Wählergedächtnis haften – plötzlich war die Rede von „Disappointing Dick“. Das passte auch sehr schön auf einen Bumpersticker.

Vor allem aber fragten sich viele Leute, ob ein Ex-Firmenboss als Gouverneur wirklich eine so gute Idee ist, wie sie zuerst dachten. Denn Dick DeVos ist nicht irgendein Geschäftsmann aus Michigan, sondern der Sohn des Amway-Gründers Richard DeVos. Amway, heute ein Teil des Alticor-Konzerns, vertreibt weltweit Reinigungsmittel und andere Haushaltsprodukte per Netzwerk-Marketing über lokale Geschäftspartner – auch in Deutschland ist Amway äußerst aktiv. „Willkommen in einer Welt voller Chancen“, steht auf der deutschen Amway-Website.

Es ist vor allem eine Welt voller Chancen für den Unternehmer. Bei den Fernsehdebatten wurde Granholm nicht müde zu betonen, dass DeVos in seiner Zeit als Amway-Präsident in den 90er-Jahr viel Geld in China investierte, dafür aber in Michigan 1000 Stellen strich. Was in den Zeitungen ebenfalls Schlagzeilen machte: Dick DeVos steckte mehr als 41 Millionen Dollar in den Gouverneurs-Wahlkampf, davon 35 Millionen aus eigener Tasche – ein Rekord im Industriearbeiterstaat Michigan, aber wahrscheinlich ohne Sympathiebonus. Granholm hat im Wahlkampf knapp 15 Millionen ausgegeben.

Dass DeVos, ein evangelikaler Christ, gegen embryonale Stammzellenforschung ist, Abtreibung auch nach Vergewaltigung oder Inzest strikt ablehnt und an den Schulen am liebsten „Intelligentes Design“ im naturwissenschaftlichen Unterricht einführen würde, mag manchen Wählern ebenfalls nicht gefallen. Interessant wurde es, als plötzlich Rasenschildchen und Billboards mit der Aufschrift "www.republicansforgranholm.com" auftauchten. Jene Republikaner, die DeVos das Fürchten lehrte, teilen die Überzeugung, „dass der beste CEO für den Staat Michigan Jennifer Granholm ist“.

Die morgigen Wahlen dürften spannend werden.