Neuankömmlinge in den USA brauchen meist eine kleine Weile, um sich an die neuen Dimensionen zu gewöhnen. Alles so groß hier! Die Autos, die Straßen, die Einkaufszentren und die Plastikbehälter für Orangensaft, die eine Gallone fassen – es gibt kaum etwas, das nicht großzügiger bemessen wäre als in der alten Heimat. Der Kühlschrank schluckt mühelos den Inhalt von dreiundzwanzig Plastiktüten aus dem Supermarkt, und im mehrstöckigen Riesen-Backofen verliert sich die transkontinental umgezogene Auflaufform, die früher knapp in die Röhre
einer durchschnittlichen deutschen Einbauküche passte. Das irritiert. Ein Trost: Die Verunsicherung hält höchstens bis zum ersten Thanksgiving. Dann macht sie einer neuen Erkenntnis Platz. An diesem Feiertag zeigt sich nämlich, warum alles in Amerika so riesig sein muss, Landschaft inklusive. Und plötzlich passt alles zusammen.
Der Lernprozess startet mit dem Versuch, einen Truthahn in passender Größe zu erwerben. Einen Zwei-Personen-Truthahn, um genau zu sein. Für ein frisch nach Amerika ausgewandertes Ehepaar, das typischerweise weder auf eine Großfamilie noch einen mitessenden Bekanntenkreis zurückgreifen kann, braucht es keinen Riesenvogel. Ein traditioneller Festtagsbraten muss trotzdem sein – lokales Brauchtum verdient Respekt, und damit basta. Dafür braucht’s nicht einmal interkulturelles Training. Also: kein schwindsüchtiges Ersatz-Federvieh, keine Gans und keine Ente. All das können Exil-Deutsche noch an Weihnachten servieren. An Thanksgiving Day muss ein richtiger Truthahn auf den Tisch.
Und so nähert sich der Käufer hoffnungsfroh der gigantischen Kühltheke, in der eine ganze Armada von gerupften Riesenvögeln liegt. Schluck – der zierlichste unter ihnen wiegt vierzehn Pfund. Geht’s nicht auch kleiner? Hilfesuchend wendet man sich an den nächstbesten Supermarktangestellten, der eingedosten Pumpkin Pie ins Regal räumt. „Schätzchen“, sagt der und lächelt mitleidig, „wenn dir das zuviel ist, dann kauf doch eine Putenbrust.“
Eine Putenbrust? Das käme einer Kapitulation gleich. Thanksgiving ohne einen Turkey mit allem Drum und Dran – undenkbar. Dabei ist nicht einmal gesichert, dass die Pilgerväter anno 1621 Truthahn auf dem Menü hatten, als sie mit einem Festtagsschmaus die reiche Ernte feierten und damit die Tradition begründeten. Zum Feiern hatten sie jedenfalls allen Grund: Im Winter zuvor waren einige der Engländer, die an Bord der „Mayflower“ gewesen waren, einfach verhungert. Und hätten ihnen die indianischen Ureinwohner nicht beigebracht, Mais anzubauen, wäre es dem Rest wahrscheinlich genauso ergangen.
Drei Tage lang feierten die neuenglischen Siedler gemeinsam mit den Indianern, das ist schriftlich bezeugt. Da wurde ordentlich aufgetischt: Von Hirschbraten ist die Rede sowie von dem reichlich vorhandenen Geflügel – wahrscheinlich gab’s auch am Spieß gegrillten Truthahn, gewissermaßen als kleinen Happen zwischendurch. Nur von Thanksgiving sprach damals noch keiner; der Begriff bürgerte sich erst später ein. Im Jahr 1863 erklärte Abraham Lincoln das Erntedankfest zum nationalen Feiertag. Erst unter Präsident Franklin D. Roosevelt wurde dann festgelegt, Thanksgiving grundsätzlich am vierten Donnerstag im November zu feiern – nicht etwa am letzten, was nicht immer auf dasselbe herauskommt.
Zu Roosevelts Zeiten war Thanksgiving aber längst Turkey Day. Das hat praktische Gründe: Erst einmal macht so ein Vogel viel her, und im Zentrum einer Festtafel wirkt er überdies kompakter als – um nur ein Beispiel zu nennen – ein Rehrücken. Ein Truthahn ist trotzdem handlich, und man muss ihn nicht selbst schießen. So geht man ans Kühlregal, sucht sich einen aus und wuchtet das Vieh in den Einkaufswagen. Vielleicht schrumpft das Tier ja beim Braten noch ein bisschen. Einkäufe im Auto verstauen – gut, dass die hier zu Lande so geräumig sind, bei einem dieser putzigen deutschen Kleinwagen wäre der Kofferraum jetzt voll. Daheim vorm Kühlschrank wird einem schlagartig klar, was die tiefere Bestimmung dieses äußerlich so schlichten Gerätes ist: Einmal im Jahr muss ein Truthahn reinpassen. Und zwar ohne Wenn und Aber.
Dasselbe gilt für den Backofen, in dem der Vogel gemütlich vor sich hin schmurgelnd ein paar Stunden verbringt. Letztlich erweist sich der Turkey somit als das Maß aller Dinge – zumindest in Amerika: Wäre das Land lediglich auf Grillhähnchen zugeschnitten, sähe alles ganz anders aus. Dann wären auch die Farmen kleiner. Und man bräuchte nicht diese breiten Straßen, auf denen riesige Trucks fahren, die Truthähne transportieren. Selbst die Wälder wären übersichtlicher, lebten darin nicht wilde Turkeys. Oder sind die Truthähne nur deshalb so groß, weil die Wälder…?
Sei’s drum. Nur wer einmal den Braten gerochen hat, wer gesehen hat, was sonst noch alles aufgefahren wird, vom Preiselbeerkompott über den Süßkartoffelauflauf bis zum Kürbiskuchen, kann das Land in seiner ganzen Größe wirklich verstehen. Und kapiert dann auch, warum in den Staaten die Portionen so groß sind: So ein üppiges Mahl wie an Thanksgiving hätten die Amerikaner am liebsten jeden Tag. Wenn auch nicht immer mit Turkey.
Und noch ein Tipp für alle, die ein unamerikanisch zierliches Vögelchen bevorzugen: Im Bio-Supermarkt ist die Pute meistens eine Nummer kleiner – wenn auch ein wenig teurer. Dafür ohne Antibiotika aufgezogen und mit Freilandhaltung bis zum Schlachttag.
Happy Thanksgiving!