Vor ein paar Jahren ging ich ins Rathaus in Rottenburg am Neckar, um eine Lohnsteuerkarte zu beantragen. Nach einer längeren Phase freier journalistischer Tätigkeit war ich im Begriff, eine feste Stelle in der Lokalredaktion meiner Heimatzeitung anzutreten – und wurde somit wieder lohnsteuerpflichtig. Fragte sich nur, in welcher Steuerklasse. Im Bürgerbüro des süddeutschen Städtchens waltete damals eine resolute Persönlichkeit, die auch mit schwierigen Antragstellern schnell fertig wurde. Ich schilderte ihr meine Situation: dass mein Mann seit einiger Zeit im Ausland wohne und arbeite, dass wir aber keinesfalls getrennt lebten. Da runzelte sie die Stirn und beschied: „Das gibt’s nicht!“
Im Prinzip hatte die gute Frau Recht. Dass jemand die Heimat verlässt, um in der Fremde Arbeit zu finden, und der Ehepartner aus praktischen Gründen zurückbleibt – vor noch nicht allzu langer Zeit war das gewiss kein deutscher Lebensentwurf. So etwas machten allenfalls die Gastarbeiter, wie man sie früher nannte, die aus Italien, dem ehemaligen Jugoslawien oder der Türkei kamen, um in Deutschland ihr Brot zu verdienen. Heute spricht man vornehm von „Menschen mit Migrationshintergrund“. Migranten, das waren jedenfalls immer die anderen. Das galt solange, bis in Deutschland die Akademikerschwemme Schlagzeilen machte.
Mein Mann ist promovierter Chemiker. In Deutschland qualifiziert das für alles mögliche, allerdings nur selten für eine Anstellung in der Industrie. „Ich kenne auch einen Chemiker. Er hat einen Copyshop“ – so oder ähnlich lautet die Reaktion, wenn ich deutschen Bekannten vom Beruf meines Mannes erzähle. Ich selbst weiß von einem Chemiker mit Doktortitel, der die Spedition seiner Eltern leitet. Zur Eröffnung eines Copyshops fühlte sich mein Mann jedoch nicht berufen, und eine Spedition hatte er auch nicht geerbt. So entschloss er sich zu einem Schritt, den viele Naturwissenschaftler wagen, die in Deutschland keine Zukunft mehr sehen: Er ging in die USA.
Es war allerdings eine Auswanderung auf Umwegen, denn nach einem Postdoc-Aufenthalt in Texas forschte er erst noch zweieinhalb Jahre lang in Japan. Dann bekam er eine Stelle in Michigan. Die Einwanderungsbehörde der Vereinigten Staaten honorierte seine wissen-schaftliche Qualifikation letztlich mit einer Green Card: In den USA gilt mein Mann als „outstanding scientist“. So subventioniert der deutsche Staat den amerikanischen Wissenschaftsbetrieb.
Übrigens gelang es der städtischen Angestellten im Rottenburger Rathaus einst doch noch, meine Lohnsteuerklasse herauszufinden: Steuerklasse 1, wie für ledige Beschäftigte. Ein im Ausland arbeitender Ehemann zählt fürs Finanzamt nicht. „Zahlt Ihr Mann denn auch Steuern in Amerika?“ fragte die Angestellte streng. Ich bejahte. „Dann kann er hier aber keinen Wohnsitz mehr haben!“ Ein paar Wochen später erhielt mein völlig perplexer Ehemann ein Schreiben vom Einwohnermeldeamt: Er war abgemeldet.
Ich arbeitete noch eine Weile als Redakteurin. Als die Zeitung meine Stelle strich, verzichtete ich darauf, mich dem Heer arbeitsloser Journalisten anzuschließen. Schreiben kann man überall, dachte ich, und so zog ich vor gut drei Jahren zu meinem Mann nach Detroit. Auswandern liegt im Trend: Allein im vergangenen Jahr verließen dem Statistischen Bundesamt zufolge 145.000 Deutsche ihre Heimat. Nicht alle geben der Behörde Bescheid – ich selbst habe mich ordentlich abgemeldet. „Bei Wegzug ins Ausland: Staat angeben“, stand auf dem Formular.