Das Unheimlichste an jenem Tag war die Stille. Totenstille. Gewöhnlich liegt eine Art Grundgeräusch über dem Großraum Detroit - die Motor-City brummt. Aber am 11. September war es, als hätte jemand den Stecker herausgezogen. Man hörte nur das Zirpen der Zikaden.
Nach dem Terror-Angriff an der Ostküste hatten "die Großen Drei" der Automobilstadt - DaimlerChrysler, Ford und GM - ihre Arbeiter und Angestellten heimgeschickt. Gegen Mittag waren die Straßen wie leer gefegt. Keine Flugzeuge am strahlend blauen Septemberhimmel, alle Flughäfen waren geschlossen. Geschlossen auch Regierungsgebäude und Schulen. Die Grenze nach Kanada war dicht. Und wie im mittleren Westen dürfte es an diesem Tag im ganzen Land ausgesehen haben: Die Menschen hatten sich in die Familie geflüchtet, schauten sich die Schreckensbilder im Fernsehen an. Auf einen Schlag hatte das Land aufgehört zu produzieren und zu konsumieren. (...) Amerika war im Entsetzen vereint.
Die Maßlosigkeit dieses Entsetzens in Worte zu fassen fiel schwer. Die Frage, wo man gerade war, als John F. Kennedy erschossen wurde, sei ersetzt worden, schrieb die Kolumnistin Rochelle Riley in der "Detroit Free Press": "Von jetzt an werden wir uns daran erinnern, wo wir waren, als Amerika seine bisher größte Herausforderung bestehen musste." Nun, als JFK ermordet wurde, lag ich in den Windeln. Aber wie ich am 11. September 2001 vor dem Radio kauerte - der Fernseher war kaputt - und die Horror-Nachrichten hörte, werde ich nie mehr vergessen.
Zu Besuch in Auburn Hills, einem langweiligen Detroiter Vorort, der neuerdings durch den DaimlerChrysler-Hauptsitz eine gewisse Bedeutung erlangt hat, war ich urlaubshalber spät aufgestanden. Gewohnheitsmäßig klickte ich die CNN-Homepage an, was nicht funktionierte. Auch andere Internet-Info-Seiten ließen sich nicht aufrufen. Nur bei TAGBLATT-Online kam ich durch, und so erfuhr ich über meine Heimatzeitung im fernen Tübingen von der Katastrophe. Die Attacke auf das World Trade Center war der erste Terrorangriff, den man sich per Real Player als Video vorspielen konnte: der Turm - das Flugzeug, scheinbar widerstandslos in das Gebäude eindringend - der Feuerball. Wieder und wieder.
Noch Tage danach stand Amerika unter Schock: Auch in Detroit kennt fast jeder jemanden, der jemanden kennt, der in einem der WTC-Zwillingstürme arbeitet, aber zum Zeitpunkt des Anschlages gerade einen Arzttermin hatte, sein Kind zum Kindergarten brachte oder noch in der U-Bahn steckte. Oder jemanden, der jetzt vermisst wird. Klar, das Leben musste weitergehen. Auf der Menütafel der Hühnerbraterkette stand: POPCORN CHICKEN GOD BLESS AMERICA. […]
(Erschienen im September 2001 im Schwäbischen Tagblatt, leicht gekürzt.)