In meiner Kindheit gab es um die Weihnachtszeit mehrere Gabenbringer, die allerdings nicht alle gleich beliebt waren. Eher von der netten Sorte war der Nikolaus: Er kam in der Nacht zum 6. Dezember und steckte Nüsse und Schokolade in meine dicken Winterstiefel. Falls er eine Rute dabei hatte, brauchte mich das nicht zu stören – ich schlief um diese Zeit. Für die Geschenke an Weihnachten war bei uns daheim das liebe Christkind zuständig, von dem man ebenfalls nichts zu befürchten hatte. Allerdings war am Christfest noch eine andere Bescherfigur unterwegs, die weitaus weniger Begeisterung bei den Kindern hervorrief: der Pelzmärte. Mit dem drohten uns die Erwachsenen, wenn wir nicht brav waren.
Der Pelzmärte war eine wilde Gestalt mit äußerst zwiespältigem Charakter. Erst drohte er mit Rutenhieben, aber dann ließ er sich doch erweichen, folgsame Kinder mit guten Gaben aus seinem groben Rupfensack zu bescheren. Ich erinnere mich allerdings nicht, ob ich ihm jemals begegnet bin, solange ich noch an ihn glaubte. An Weihnachten gab es übrigens auch Schokoladen-Nikoläuse. Der Begriff „Weihnachtsmann“ kam in meiner Kinderwelt hingegen nicht vor. Und erst viele Jahre später machte ich mir überhaupt Gedanken über die seltsamen gabenbringenden Figuren aus meiner Heimat am Rande der Schwäbischen Alb.
Als ich in Rottenburg am Neckar bei der Lokalzeitung arbeitete, zeigte sich nicht zuletzt, dass ich in Sachen Brauchtum einiges aufzuarbeiten hatte. Aufgewachsen bin ich in der Nähe von Tübingen, das zu Altwürttemberg gehörte und wo die Reformation mit vielen volkstümlichen Bräuchen gründlich aufgeräumt hatte. Im nahen Rottenburg, das unter vorderösterreichischer Herrschaft katholisch geblieben war, hatten die alten Traditionen überlebt. Und in der Bischofsstadt wusste man auch genau, wie der Nikolaus auszusehen hatte – der trug nicht etwa ein rotes Kostüm mit weißem Pelzbesatz, wenn er über den Weihnachtsmarkt schritt, sondern das Gewand eines Bischofs mit Stab und Mitra. Wie es sich für den heiligen Nikolaus geziemt, denn der war im 4. Jahrhundert Bischof von Myra in Kleinasien. Der Heilige wurde unter anderem als Wohltäter der Kinder verehrt, und so machte er im volksfrommen Brauchtum als Bescherfigur Karriere.
In den evangelischen Flecken im angrenzenden Württemberg wurde der Nikolaus mit der Reformation allerdings in Rente geschickt – jegliche Form der Heiligenverehrung galt als suspekt. Wie mir meine Mutter erst kürzlich bestätigte, kam in ihrer eigenen Kindheit kein Nikolaus vor. Sankt Martin, als barmherziger Mantelteiler für die Rolle des Gabenbringers ähnlich qualifiziert, konnte sich jedoch auch auf evangelischem Gebiet über die Jahrhunderte mogeln. Wie dies möglich war, erfuhr ich bei einem Rottenburger Vortrag des Volkskundlers Werner Mezger.
Prof. Werner Mezger ist allen Fasnetsfans im Südwesten Deutschlands von Umzugs-Übertragungen im Fernsehen ein Begriff. Der Freiburger Brauchtumsforscher ist aber nicht nur ein renommierter Fastnachts-Experte – er hat sich auch intensiv mit Martinsbräuchen befasst. Das gehört enger zusammen, als man zunächst denkt. Zu den Erscheinungen der Brauchlandschaft in evangelischen Gebieten, so der Volkskundler, gehören vermummte Gestalten wie der Pelzmärte, eine ziemlich unheimliche Bescherfigur mit Anklängen an die Brauchgestalt des Nikolaus. Aber wieso dann Märte, also Martin? Ganz einfach: Der heilige Martinus wurde als Namenspatron von Martin Luther in den reformierten Gebieten eher toleriert als Nikolaus.
Wie austauschbar die beiden Brauchgestalten mancherorts sind, zeigt sich an ihren dienstbaren Geistern: Knecht Ruprecht, ursprünglich ein Begleiter des heiligen Nikolaus, ist im Fränkischen mit dem „Pelzmärtl“ unterwegs, wie mir eine Freundin berichtete. Die eindeutig negativ besetzten Gestalt des Ruprecht – als Brauchtumsfigur ein Kapitel für sich – hat ihren Ursprung in einem mittelalterlichen Kinderschreck. Häufig sind aber der Heilige und sein wilder Knecht zu einer einzigen Figur verschmolzen, was deren seltsam unberechenbares Wesen erklärt. So erinnert bei Pelzmärte und Konsorten nur noch der Name an einen frommen Mann. Abgesehen davon ist den „eigentümlichen Zwitterscheinungen zwischen den Brauchgestalten Martinus und Nikolaus“ (Mezger) ein entschieden unheiliges Auftreten gemeinsam.
Kein Wunder, dass der Nikolaus in einer modernen bürgerlichen Ausgabe plötzlich überall salonfähig wurde: Meine Geschwister und ich hatten von einer weitgehend säkularisierten Neuauflage der Tradition profitiert. Und dieser Neuzeit-Nikolaus verdrängte die konkurrierende Brauchgestalt dann ziemlich schnell – als meine Großeltern nicht mehr lebten, war auch der Pelzmärte aus dem familiären Sprachgebrauch verschwunden. Gleichzeitig feierte der heilige Martinus ein Comeback in seiner ursprünglichen Gestalt – der Volkskundler sieht das als „Braucherneuerung“. Nicht nur im Bistum Rottenburg-Stuttgart, wo der Heilige als Diözesan-Patron verehrt wird, begeht man den 11. November vielerorts mit Martinsritt und Mantelteilung. Oft wird das Martinsfest ökumenisch gefeiert. Deutsche im Ausland begreifen es sogar als wesentlichen Bestandteil ihrer Herkunftskultur: Eine deutsch-amerikanische Kindergruppe hier in Metro Detroit hat nun schon zum zweiten Mal einen Laternenlauf mit Martinsspiel organisiert.
Aber auch die Erscheinung von wilden Kläusen und anderen rauen Gesellen hat sich in einigen deutschsprachigen Brauchlandschaften bis heute gehalten; im Elsass etwa wird das Christkind von einer Schreckfigur namens Hans Trapp begleitet. Krampus heißt der Kerl im bairischen Sprachraum. Das Auftreten dieser Figuren ist dabei nicht unbedingt an Weihnachten gebunden – in einigen Schweizer Gegenden sind Silvesterkläuse unterwegs. Gelegentlich tragen sie Schellenstränge wie die Fastnachtsnarren. Da haben wohl einfach die wilden Gestalten, die seit germanischen Zeiten in den Nächten um den Jahreswechsel ihr Unwesen treiben, einen christlichen Namen angenommen. Und für alle gilt: "Von drauß' vom Walde komm ich her..."
Selbst der amerikanische Santa Claus, den die Niederländer als „Sinterklaas“ in die Vereinigten Staaten brachten, hat die wilden Sitten seiner europäischen Verwandten noch nicht ganz abgelegt: Immerhin steigt er durch den Kamin in die Häuser. Was eigentlich gar nicht zu seinem schönen roten Gewand passt. Und am Nordpol, wo Santa bekanntlich mit Mrs. Claus wohnt, unterstützt ihn ein ganzes Heer von Elfen bei den Weihnachtsvorbereitungen. Abgesehen davon tritt Santa, genau wie der deutsche Weihnachtsmann, heutzutage meist in einer gänzlich säkularisierten Form auf – von allen guten Geistern verlassen.