Das Foto auf der Vortragsankündigung stammte eindeutig aus sportlicheren Zeiten – Joschka Fischer sieht einfach nicht mehr so hager aus wie damals, als er noch Marathon lief. Dafür verkörpert er jetzt sehr schön den elder statesman; seine Gastprofessur in Princeton verleiht ihm zusätzliche Statur. Heute unternahm Fischer einen Abstecher von der Ostküste nach Ann Arbor, um am European Union Center der U of M einen Vortrag zu halten. Der Titel: „Redefining the European Union: Why it matters to the US.“
Das hört sich spannend an, und nicht zuletzt deswegen kamen auch erstaunlich viele Deutsche in den Michigan League Ballroom, um zu hören, wie Joschka Fischer die EU neu definiert. Nun, sie
sahen sich enttäuscht. Da wurde nichts umdefiniert. Aber immerhin hörten sie eine erstklassige Vorlesung über die Geschichte der EU mit besonderer Berücksichtigung der Rolle, welche die USA bei der Entstehung spielten. Joschka erklärt Europa. Vorher gab’s aber noch eine Grußadresse an die deutschen Grünen – und an Tübingen, die Partnerstadt von Ann Arbor. Dort sei ein junger Grüner zum Bürgermeister gewählt worden, verkündete der frühere Außenminister stolz, ohne den Namen Boris Palmer zu nennen. „Things are moving in the right direction with the greens“, sagte Fischer. Und, klar: „Tübingen is a wonderful place.“
Im Folgenden ließ der Grüne Fischer die Parteizugehörigkeit aber außen vor, seine Nationalität ebenfalls, und er gab sehr überzeugend den Europäer. „We Europeans“ begannen etliche seiner Sätze. Aber was ist das, ein Europäer? Der Neokonservative Robert Kagan habe einmal gesagt, so Fischer, die Europäer seien von der Venus und die Amerikaner vom Mars. Dabei war der europäische Kontinent lange der Kontinent des Krieges! Was Kagan nicht verstanden habe: „Die Europäer haben Mars überlebt.“ Allen voran natürlich die Deutschen – Fischer sagte nie „wir Deutschen“ –, die sich nach dem „Prozess der Selbstzerstörung und der Zerstörung ihrer Nachbarn“ heute dem europäischen Gedanken verpflichtet sehen. Franzosen und Deutsche leben in Frieden, nachdem sie 300 Jahre gegeneinander Krieg geführt hatten. Fischer: „Meine Generation ist die erste, die nicht in den Krieg zog“ gegen die französischen Nachbarn.
Die „Vereinten Staaten von Europa“ kämpfen laut Fischer nun nicht mehr um ein „Gleichgewicht der Mächte“ und führen Kriege, sondern verfolgen gemeinsame Interessen. Die Gründung der EU bedeutete „das Ende der Ära des Nationalismus“. Und andere Staaten auf europäischem Boden, die das mit der Demokratie und dem friedlichen Miteinander auch vorher schon ganz gut hingekriegt hatten, wie die Skandinavier und die Briten, schlossen sich aus pragmatischen Gründen an. Für arme Länder wie Irland oder Portugal, einst Exporteure von Arbeitskräften, führte die Mitgliedschaft in der EU zu beachtlichem wirtschaftlichem Aufschwung. Frieden, Stabilität und Wohlstand: eine Erfolgsgeschichte. „Und die osteuropäischen Mitglieder werden diese Erfahrung teilen“, sagte Fischer, der beim Reden lässig die linke Hand in die Hosentasche steckte, falls er nicht gerade beidhändig gestikulierte.
Und was die USA damit zu tun haben? Nun, „die Mehrheit der gefallenen amerikanischen Soldaten liegt in Europa begraben“, so Fischer. Dass die amerikanischen Truppen nach dem Krieg in Europa stationiert blieben, sei eine Voraussetzung für die Gründung der EU trotz stalinistischer Bedrohung gewesen. Und als in Jugoslawien die alten nationalistischen Dämonen wieder erwachten, brauchte es die USA, um die Grundlage für das europäische Engagement im Kosovo zu schaffen. Er bereue nur, dass sich Europa in den Konflikt nicht früher eingemischt habe, sagte Fischer, der 1999 als Außenminister maßgeblich die deutsche Beteiligung am Kosovo-Krieg unterstützte.
Dass die EU bei all dem aber keine Supermacht-Ambitionen hege, betonte Fischer mehrfach. An die Adresse der Weltmacht USA gerichtet, sagte er: „If you don’t lead, we will be in a vacuum. Europe cannot fill that vacuum.“ Europa könne aber mit den USA gemeinsam handeln, so Fischer – immerhin seien die Europäer erwiesenermaßen Experten darin, Diktaturen zukunftsfähig ("sustainable") zu überwinden.