Tuesday, November 6, 2007

Klassen-Gesellschaft

Ein Mann, der Herrn K. lange nicht gesehen hatte, begrüßte ihn mit den Worten: "Sie haben sich gar nicht verändert." "Oh!" sagte Herr K. und erbleichte.
Bertolt Brecht

Eine Freundin von mir hat demnächst Klassentreffen. Das scheint sie sehr zu beschäftigen; sie hat schon mehrmals davon angefangen. Offenbar ist zu diesem Anlass auch ein Jubiläums-Jahrbuch geplant, und jede/r Teilnehmer/in darf dafür zwei Bilder von sich beisteuern: eins von damals und ein aktuelles. Ich habe sie zwar erst kürzlich fotografiert, aber mit dem Resultat ist sie wohl nicht einverstanden. Nun hat sie mich gebeten, ein Porträt herauszusuchen, auf dem sie noch ein paar Lenze jünger ist und im Gesicht deutlich schmaler. Dieses Bild zeigt wohl die Person, die sie gerne zum Treffen schicken würde.

Was für ein Stress. So eine High School Reunion hier zu Lande, das ist schlimmer als jedes Examen. Man muss nämlich beweisen, dass man auch im Leben bestanden hat: "It's time to celebrate life's successes and renew old acquaintances", steht auf eHow.com, unter der Rubrik: How to Organize a High-School Class Reunion. Aber das ist noch nicht alles: "It's also time to start losing the pounds, covering the gray and planning a reunion to remember."

Das Klassentreffen als Schaulaufen. Wer hat das größte Haus und das dickste Bankkonto? Ein paar niedliche Kinder sind auch gut für die persönliche Bilanz. Wenn man alles verzockt hat im Leben, sollte man wenigstens so rank und schlank und blondgelockt sein wie damals. Sonst geht man am besten gar nicht erst hin.

Das Klassentreffen, an dem ich vor ein paar Jahren teilnahm, war wahrscheinlich die Ausnahme: Wir trafen uns in einer Gartenwirtschaft außerhalb von Tübingen, genossen den Ausblick in die sommerliche Landschaft und erzählten uns, wohin uns das Leben verschlagen hatte. Ich fand einige ehemalige Mitschüler netter als damals. Wir waren alle eindeutig älter geworden, aber nicht in dem Maße, dass es das Wiedererkennen erschwert hätte. Das liegt wahrscheinlich daran, dass eine Abitursklasse eine relativ homogene Gruppe ist. Bei Jahrgangstreffen - die ich persönlich immer vermieden habe - sieht das schon anders aus: Da wirken einige Jahrgänger wie die Eltern der anderen, und ein paar sind augenscheinlich mit ihren Kindern unterwegs.

Aber es hilft in jedem Fall, wenn man sich selbst eingesteht, dass das Leben nicht spurlos an einem vorübergegangen ist. Nachdem meine Freundin das gewünschte Porträt erhalten hatte, schrieb sie zurück: "Boy, bin ich alt geworden!"

Mehr zum Thema: Das kleine Einmaleins des Klassentreffens