Thursday, August 14, 2008

Vor fünf Jahren: Der Blackout von 2003

Als das Licht ausgeht, ist es kurz nach vier Uhr nachmittags. Es dauert eine Weile, bis die Leute begreifen, dass nicht nur ihr Block betroffen ist. Ich befinde mich zu diesem Zeitpunkt in der Somerset Collection, einer ziemlich großen Mall in einer der Vorstädte Detroits, und wühle mich durch die Kleiderständer eines Kaufhauses, weil ich für die Hochzeit meiner Schwester noch etwas zum Anziehen brauche. Die Neonröhren flackern noch einmal kurz auf, eine Verkäuferin sagt: „Oh Gott – bitte nicht“, und dann wird’s auch schon dunkel. Fast dunkel. Eine schummrige Notbeleuchtung hat sich angeschaltet, und ich bewege mich in Richtung Ausgang. „Vielleicht sind zu viele Klimaanlagen an“, meint eine Kundin. Es ist der erste richtig heiße Augusttag in Michigan, und niemand schwitzt hier gern. Die Kaufhausangestellten stehen in Grüppchen herum, einige telefonieren hektisch. Manche Cell Phones, wie Handys in den Staaten genannt werden, funktionieren, andere nicht. Meines lässt mich im Stich.

„Der Strom ist in ganz Detroit weg“, sagt jemand. Und plötzlich geht es von Mund zu Mund: Nicht nur Michigan, die ganze Ostküste Amerikas ist betroffen, auch New York City. „You’re kidding“, sagt eine ältere Dame, der ich das erzähle, „Sie machen wohl Witze.“ Die Frau sitzt auf einer Bank im verglasten, sonnendurchfluteten Innenhof des Einkaufszentrums, und ich setze mich dazu – was bleibt mir anderes übrig. Die Geschäfte haben inzwischen geschlossen. Und auf der Straße bahnt sich ein beachtliches Verkehrschaos an, wie ich von der Mall aus beobachten kann.

Vor allem kurz nach dem Stromausfall am Donnerstagnachmittag habe es überall kleinere Auffahrunfälle gegeben, berichtet der Sheriff von Ann Arbor, Daniel Minzey, später im Radio: „Die Ampel blinkten zunächst, und die Leute waren verwirrt.“ Tübingens Partner-City ist ebenso betroffen wie die meisten anderen Städte in Südost-Michigan – alle hängen sie Stromnetz der Großen Seen, das unter anderem von den Wasserkraftwerken der Niagara-Fälle gespeist wird. In Ann Arbor hat man zumindest das Verkehrsproblem bis zum Abend im Griff: Dem Sheriff zufolge werden die wichtigsten Ampeln der Universitätsstadt über Generatoren mit Strom versorgt.

Im Großraum Detroit, wo rund fünf Millionen Menschen leben, geht’s derweil auf den wichtigsten Verbindungen nur im Schritttempo voran. Sie habe für die paar Meilen bis zum Einkaufszentrum über eine Stunde gebraucht, erzählt Jewel Gopwani, Reporterin bei der Detroit Free Press. Sie kommt gerade noch rechtzeitig, um die beiden bedauernswerten Menschen zu interviewen, die über zwei Stunden lang im Lift der Mall eingeschlossen waren – man konnte sie in ihrer gläsernen Kapsel zwar sehen, aber nicht erreichen. Einer der Eingeschlossenen, ein 47-jähriger Kalifornier aus Los Angeles, hat keine Lust auf viele Worte. Er will einfach schnell weg.

Als es heißt, der Verkehr habe sich beruhigt, fahre ich ebenfalls in meine Vorstadt zurück, nach Auburn Hills. Alle Kreuzungen, deren Ampeln ausgefallen sind, sind jetzt „four-way-stops“, erklärt der Radiosprecher: Das heißt, alle müssen zunächst anhalten und dürfen dann in der Reihenfolge wieder losfahren, wie sie angekommen sind. Für fünf Counties, wie die Landkreise hier heißen, wurde der Notstand ausgerufen, höre ich außerdem; Washtenaw County mit Ann Arbor gehört dazu. Mancherorts werden Ausgangssperren verhängt. Es gibt weiterhin Mutmaßungen darüber, was wohl der Auslöser war für die Kettenreaktion, die über 100 Kraftwerke lahm legte. Ein Blitzschlag, wie zunächst vermutet, kann’s nicht gewesen sein. Offenbar lag's an drei fehlerhaften Übertragungsleitungen in Ohio.

Im Haus suche ich nach einer Kerze und Streichhölzern. Ich öffne den Speiseschrank und betrachte meine spärlichen Vorräte – ich fürchte, auf Katastrophen bin ich nicht eingerichtet. Auch mein Festnetz-Anschluss ist Strom-abhängig, und so kann ich nicht einmal meinen Mann in San Francisco anrufen. Das Autoradio ist meine einzige Informationsquelle, und ich gehe zurück zum Wagen, wo ich der Rede von George W. Bush lausche. „Wir werden versuchen, das Problem so bald wie möglich in den Griff zu bekommen“, verspricht der US-Präsident und versichert, es habe sich nicht um einen terroristischen Anschlag gehandelt.

Es sind viel mehr Leute im Hof als sonst, und ich lerne Nachbarn kennen, die ich noch nie zuvor gesehen habe. Aus den Fenstern dringt milder Kerzenschein. Ich hätte nie gedacht, dass ich einmal nach Amerika komme, und dann fällt der Strom aus. Und ich muss meine Notizen dazu bei Kerzenlicht in den Computer hacken – mein Laptop läuft dank Akku hoffentlich noch eine Weile.

Am nächsten Morgen tröpfelt aus dem Wasserhahn nur noch ein dünnes Rinnsal. Auch kommunale Wasserpumpen laufen mit Strom. Ich putze mein Zähne mit Wasser aus der Flasche, eine Gallone voll besitze ich noch. Auf einer Suche nach einem offenen Supermarkt werde ich überraschend schnell fündig; nach einem heftigen Eissturm mit tagelangem Stromausfall im April haben sich viele Geschäfte Generatoren zugelegt. Vor den wenigen Tankstellen, die geöffnet sind, bilden sich Schlangen. Mancherorts wird das Benzin knapp, heißt es, ebenso das Eis zum Kühlen. Die Stimmung ist trotzdem gut: In Gärten und Parkanlagen gibt’s spontane Grillpartys – die Leute verbraten das Fleisch aus ihren Tiefkühltruhen, das sonst verderben würde.

Außerdem entwickelt sich am Freitag ein regelrechter Einkaufstourismus ins südwestliche Michigan, das vom Blackout verschont ist. Die Bewohner von Ann Arbor zieht’s ins 17 Meilen entfernte Chelsea – und als sie wieder nach Hause kommen, stellen viele erfreut fest, dass sie wieder Strom haben. Im südwestlichen Teil des Ballungsgebietes brennt am Abend überall wieder Licht. Downtown Detroit und die nördlichen Vorstädte müssen noch warten. Daimler-Chrysler gibt aber im Radio bekannt, dass die Spätschicht am Samstag in allen Werken wieder antreten soll. Und die Ampel bei meiner Siedlung funktioniert wieder, auch das ein gutes Zeichen.

Ich gehe gegen Mitternacht zu Bett. Um halb eins wache ich wieder auf – die Digitalanzeige des Weckers blinkt. Und in der Küche brummt friedlich der Kühlschrank: Hurra, ich bin wieder am Netz! Das Wasser, das Samstagmorgen aus dem Wasserhahn kommt, ist eine ziemlich trübe Brühe, zum Trinken nicht geeignet. Eine Dusche riskiere ich trotzdem – es ist herrlich.

Und am Samstagabend bei der traditionellen Dream Cruise auf der Woodward Avenue, wo die Detroiter Autonarren unter Anteilnahme von rund zwei Millionen Zuschauern mit Straßenkreuzern und getunten Schlitten auf und ab fahren, frage ich mich erstaunt: „War da was?“

(Erschienen im Schwäbischen Tagblatt am 18. August 2003.)