Wer eine Zeit lang in Amerika gelebt hat, sieht historisches Gemäuer in Good Old Europe plötzlich mit anderen Augen. Nicht, dass ich vorher keinen Gefallen daran gefunden hätte - ganz im Gegenteil. Aber wo mittelalterliches Mauerwerk Standard ist und das Landesdenkmalamt regelmäßig in Aktion treten muss, sobald jemand ein größeres Loch in den Boden buddelt, tritt eine gewisse Gewöhnung ein. Da braucht es schon ein römisches Klo wie in Rottenburg am Neckar, dem antiken Sumelocenna, um im Reiseführer überhaupt erwähnt zu werden. Zum Vergleich: Im 1701 gegründeten Detroit ist man schon froh, wenn ein Gebäude aus den Zwanziger Jahren des vorigen Jahrhunderts stammt; die ältesten erhaltenen Häuser in Corktown wurden zwischen 1830 und 1840 gebaut.
Und dann komme ich nach Würzburg und lese im "Stadtplan für Gäste" über die Festung Marienberg, dass es dort schon zur Hallstattzeit eine Fliehburg gab - rund 1000 Jahre vor Christus. Was heute hoch über der Stadt zu sehen ist, stammt zumindest teilweise noch aus dem Mittelalter. Ein Streifzug durch Jahrhunderte von Baugeschichte macht hungrig und durstig, und so kehren wir im Wirtshaus "Zum Stachel" ein: Das Gebäude wurde bereits im Jahr 1413 urkundlich erwähnt. Der nach dem stacheligen Morgenstern benannte Gasthof war ein wichtiger Schauplatz im Bauernkrieg. 1525 trafen sich dort die aufständischen Bauern, die sich mit den Würzburgern verbündet hatten. Bürgermeister Tilman Riemenschneider dürfte auch dabei gewesen sein.
Eine große Vergangenheit ist jedoch nicht alles. Offenbar pflegen die Würzburger auch im Hinblick auf alles Zukünftige eine großzügige Zeitrechnung: Wir trinken einen 2004er Randersackerer Ewig Leben. Prost.