Der Applaus will gar nicht mehr aufhören, und am Ende spenden die Zuhörer stehend Beifall. Der Vortrag von Boris Palmer in Ann Arbor zum Thema „Climate Change & The City – Klimawandel und die Stadt“ stößt auf großes Interesse. Mehr als 150 Leute sind in die Stadtbibliothek der US-Partnerstadt gekommen, um den „Lord Mayor“ aus Tübingen zu hören. Der Saal ist brechend voll. „Das hat er gut gemacht“, sagt die mitgereiste Stadträtin Ulrike Heitkamp anerkennend, fügt aber gleich hinzu: „Es war auch ein dankbares Publikum. Im Gemeinderat hat er es nicht immer so leicht.“
Um Palmer bildet sich derweil ein kleiner Auflauf. Einige Zuhörer wollen „Deutschlands grünsten Bürgermeister“, wie es in der Ankündigung hieß, auch aus der Nähe kennenlernen. Und der Tübinger OB genießt den Auftritt sichtlich. Überhaupt ist der Aufenthalt in der Sister City eine nette Abwechslung – das ist ihm deutlich anzumerken. Wenn man als „der neue Joschka“ gehandelt wird, wie etwa die deutsche Ausgabe des Magazins „Vanity Fair“ titelte, ist eine kleine Auszeit vom Ruhm zur Abwechslung durchaus willkommen. Zu viele Vorschusslorbeeren können auch eine Bürde sein.
In Ann Arbor hat man immerhin gemerkt, dass es einen englischsprachigen Wikipedia-Artikel über Boris Palmer gibt, denn das Foto auf dem Veranstaltungsplakat der Stadtbücherei ist das selbe wie in dem Online-Lexikon. Dass ihn die lokale Presse weitgehend ignoriert, irritiert den medienbewussten OB jedoch sichtlich. Am Morgen vor dem Vortrag kauft er sich extra eine „Ann Arbor News“ und blättert sie von vorn bis hinten durch, in der Hoffnung, wenigstens einen klitzekleinen Hinweis auf die Veranstaltung zu finden – vergeblich.
Es ist allerdings kein Wunder, dass die Zeitung nicht über die offizielle Delegation aus der deutschen Partnerstadt berichtet. „Die haben wir abgeschrieben“, erklärt Ann Arbors Bürgermeister John Hieftje später in einem anderen Zusammenhang, als es über die mangelhafte Berichterstattung der Zeitung über umweltfreundliche Projekte der Stadt ging. „Die haben zwei Mal Bush unterstützt. Beim ersten Mal haben wir es gerade noch verstanden, aber dann …“.
Auf diese Weise hat Palmer in Ann Arbor mehrfach das Vergnügen, sich einem Publikum präsentieren zu dürfen, dem er völlig unbekannt ist. „Tübingen hat 84 000 Einwohner, eine Universität und einen grünen Bürgermeister“, sagt er munter. „Und der bin ich.“ Alle lauschen gespannt, wenn er etwa übers schöner Wohnen im Französischen Viertel berichtet, und dass es besser sei, „wenn wir die Kinder auf der Straße spielen lassen und nicht die Autos“. Noch keiner hat von seiner smarten Dienstwagen-Wahl gehört oder weiß, warum er die übermotorisierten Produkte der einheimischen Autoindustrie verschmäht: „Ich bin doch kein Bankräuber auf der Flucht, sondern ein Oberbürgermeister. Ich muss nicht so rasen!“
Nicht nur an dieser Stelle erntet Palmer die wohl kalkulierten Lacher. Das gefällt den Amerikanern: Ehrgeizig und blitzgescheit wirkt er, da kann er gern auch ein bisschen ein Spinner sein. Er ist von der Sorte jener Überflieger, die in Garagen an seltsamen Dingen basteln, die dann später die Welt verändern. Ein „Nerd“, ein Streber, ist das auf Englisch, und so einen belächelt man vielleicht ein wenig, aber man zollt ihm trotzdem höchsten Respekt. Und hört ihm gebannt zu. „Er hat halt eine Vision“, drückt es Stadträtin Heitkamp aus.
Vor allem verpackt er seine Thesen anschaulich und amüsant. Palmer, der ein Auslandssemester in Australien verbrachte, hat ein flottes Englisch zur Hand, und wenn ihm gerade das Wort für „Fachwerkhäuser“ nicht einfällt, umschreibt er es geschickt, ohne dass sein Redefluss jemals ins Stocken geriete. Den Slogan „Tübingen macht blau“ habe er gewählt, weil Blau in Deutschland keine Parteifarbe sei. Ach so. Der Berichterstatterin war das nicht klar. Die Übersetzung „Tübingen goes blue“ ist fürs Publikum Grund zum Jubeln: Denn „Go Blue“ ist der Schlachtruf der Sportmannschaften an der University of Michigan in Ann Arbor.
Einer der Zuhörer hätte Palmer am liebsten gleich zum Gouverneur von Michigan gemacht, meint aber, als Politiker habe er in Baden-Württemberg ein leichteres Spiel als im US-Zentrum der Autoindustrie. Da fällt Palmer kurz in einen sehr belehrenden Ton: Die Amerikaner könnten manches für sich reklamieren, aber nicht die Erfindung des Automobils. Wer hat's erfunden? Na, Daimler und Benz!
Die Automobilbranche als Schlüsselindustrie ist aber nicht die einzige Gemeinsamkeit zwischen den Schwaben und den Amerikanern. Robert Williams, 48, der einst in Freiburg studierte und auf Deutsch erklärt: „Ich liebe die grüne Bewegung!“, möchte mit seiner Firma Arbor EcoSystems erschwingliche umweltfreundliche Produkte auf den Markt bringen. Während Palmers Rede macht er sich ausführlich Notizen. „Ich habe festgestellt, dass die Leute nur bereit sind, ihr Verhalten zu ändern, wenn sie dabei Geld sparen“, sagt Williams. Boris Palmer würde das sofort unterschreiben.
Offizielle Website der Stadt Tübingen: www.tuebingen.de