Wenn ich Hermann Hesse oder Max Frisch im Unterricht behandle, kommt die Rede natürlich auf das Tessin. Und dann frage ich meine Schüler, wo das wohl liegt. Die Antwort ist immer dieselbe und für mich schon lange keine Überraschung mehr: Sie wissen es nicht. Es ist der Normalfall. Junge Deutsche, fließend in Englisch und mit Lebenserfahrung auf zwei Kontinenten, wissen nicht, wo das Tessin liegt. Sie waren schon in Brasilien und auf Hawaii, an mexikanischen Stränden, deren Namen sie längst vergessen haben, und selbstverständlich auch an beiden Küsten der USA. Aber sie haben nie die Ur-Reiseerfahrung der Fernwehkranken gemacht, bevor das Flugzeug zum überfüllten Nahverkehrsmittel wurde und Malle das 17. Bundesland der Deutschen: die Autofahrt auf die Alpensüdseite, durch den Tunnel oder oben drüber.
Die Traum von Wärme und Sonne und südlicher Lebensart verband sich für viele Deutsche der Nachkriegsgeneration – und auch noch für ihre Kinder – zuallererst mit dem Tessin. Man musste den Süden er-fahren: Es war das Licht am Ende des Gotthardtunnels. Tatsächlich schien auf der anderen Seite meistens die Sonne, wenn wir aus dem kalten Norden kamen. Ich erinnere mich an eine Fahrt durchs Ticino-Tal, über dem kurz vorher ein Gewitter niedergegangen sein musste: Alles glänzte frisch gewaschen, und von jedem Felsen sprang ein Wasserfall. Das Tessin, das bedeutete Italianità in schweizerischer Qualitätsausführung. Falls das zu nervig wurde, konnte man immer noch nach Stresa flüchten, in die verblichene Herrlichkeit oberitalienischer Sommerfrischen. Die gibt’s natürlich auch am Gardasee, aber das entdeckten wir erst später.
Der Lago Maggiore, wie das schon klang. Ascona und Locarno interessierten unser allerdings weniger. Wie fuhren in die grünen Täler, wanderten durch winzige Dörfer und balancierten über riesige Kiesel im Bachbett. Die Verzasca mit der schön geschwungenen Brücke darüber – Bilder, die man nicht vergisst. Wir besuchten auch die kleinen romanischen Kirchen, aus Granit für die Ewigkeit erbaut. Selbst die Ställe und die Tische im Grotto waren aus Granit.
„Alles in allem ein grünes Tal, waldig wie zur Steinzeit“, heißt es am Ende von Frischs „Der Mensch erscheint im Holozän“ über ein Bergtal, das dem Onsernonetal gleicht. „Ein Stausee ist nicht vorgesehen. Im August und im September, nachts, sind Sternschnuppen zu sehen oder man hört ein Käuzchen.“
Ich fürchte, meine Schüler haben von diesem Text wenig verstanden. Vielleicht ist das Tessin einfach zu exotisch für sie.