Wenn der Winter bis in den April hinein dauert, setzt hier langsam das cabin fever ein – Lagerkoller macht sich breit. Ich muss schon sagen, dass ich in dieser Jahreszeit mit Michigan stets ein wenig hadere: Ein Leben ohne Frühling ist einfach unerfreulich. Jedenfalls im Frühjahr. „Aber der kommt schon noch“, versichern mir dann gute Freunde, die schon lange hier leben, mit einem aufmunternden Lächeln. Nein, ihr Lieben, das stimmt einfach nicht. Denn wird es nach dem langen Winter endlich wieder warm, dann mutet das Wetter bereits sommerlich an. Auch das Donnerwetter kürzlich, bevor es wieder kalt wurde, war in keiner Weise frühlingshaft.
Ein wonnig zartes Frühlingslüftchen, das einen zuweilen noch ein bisschen frösteln lässt, gibt’s hier zu Lande einfach nicht. Der Wind ist entweder beißend kalt – oder aber unangenehm warm und feucht, und man bekommt Kopfschmerzen. Frühling geht anders. Frühling ist dann am schönsten, wenn er noch eine Ahnung ist. Etwa, wenn auf der Schwäbischen Alb die Märzenbecher im Wolfstal blühen. Im engsten und dunkelsten Tal, das man sich vorstellen kann, zwischen hohen Felswänden, stoßen die zarten Blütenglöckchen durch Schnee und Eis. Auch im Schweizer Jura gibt es tief eingeschnittene Täler voll mit Märzenbechern.
Wenn ich an Frühling denke, fällt mir überhaupt die Schweiz ein. Die Uferlandschaft des Genfersees. Schon der Februar bringt Tage mit einer Luft wie Champagner. Sicher, auch Kälteeinbrüche gehören zu dieser Jahreszeit, und oft erfrieren die Magnolienblüten in den Genfer Parks. Aber die Winzer am Lac Léman können sich bei ihrer Arbeit von den ersten milden Sonnenstrahlen wärmen lassen. Und im März brennen in den Weinbergen bei Lausanne überall die Rebenfeuer. Falls der Rauch nicht die Sicht verschleiert, scheinen die Savoyer Alpen auf der französischen Seite des Sees zum Greifen nahe, und das Wasser ist vergissmeinnichtblau (genau wie von Max Frisch in „Stiller“ beschrieben). In den Rebbergen hoch über Cully – auf halber Strecke zwischen Lausanne und Vevey – ist die Aussicht einfach überwältigend. Die Vignerons, die ich auf meinen Spaziergängen traf, waren stolz auf die Landschaft, zu deren Einzigartigkeit sie mit ihrer Hände Arbeit beitrugen. „Il est beau, notre pays!“
Als wir vor ein paar Wochen in den Weinbergen auf der Old Mission Peninsula bei Traverse City im Schnee spazierten, das war Anfang März, realisierte ich zum ersten Mal, dass der Rebschnitt hier in Michigan bei Minusgraden vonstatten geht. Wie lange dauert es wohl noch, bis auf Old Mission die Reben weinen? Wenn im Frühjahr der Saft in der Rebe steigt, tritt er an der frischen Schnittstelle aus und bildet einen dicken Tropfen: Das freut den Dichter („Tränen weint die arme Rebe“ – Justinus Kerner) und den Fotografen. Ich habe diesen Moment allerdings erst einmal mit der Kamera erwischt; man muss schon am richtigen Tag in den Weinberg kommen. Am Genfersee war das Anfang April.
Wann immer der Wein in Michigan weint, ich bin mir ganz sicher: Es muss sich um Freudentränen handeln.