Irgendwann nach dem Abitur stieg ich in den Zug und fuhr nach Marseille. Man hatte mir gesagt, das liege sehr weit im Süden. Das war mir recht, denn dort wollte ich hin.
Dummerweise kam mein Gepäck nicht gleichzeitig mit mir an. Ich wohnte als Aupair-Mädchen bei einer Familie, und als wir die Sachen endlich abholen konnten, wunderte sich meine Madame über das enorme Gewicht der drei Koffer. In mindestens einem davon waren nur Bücher. Ich wollte nicht ganz alleine in die weite Welt gehen.
Zu meinen Aufgaben gehörte es, einen kleinen Jungen zu beaufsichtigen, Mittagessen zu kochen und die Familie mit frischem Baguette zu versorgen. Manchmal schummelte ich und backte das alte Brot vom Vortag wieder auf, anstatt den Rest wegzuwerfen. Aber Monsieur merkte es meistens und meckerte. So ging ich gewöhnlich jeden Morgen erst einmal zur Boulangerie. Die Bäckerin war eine sehr resolute Matrone, die nur noch wenige Zähne im Mund hatte. Wenn ich warten musste, sah ich ihr zu, wie sie große Bleche Pizza mit der Schere in Vierecke schnitt. Die Pizza war mit Tomaten und Oliven belegt, und die Arbeiter aus der Nachbarschaft kauften sich ein oder zwei Stück als Imbiss.
Nachmittags besuchte ich die Sprachschule der Alliance Française, wo ich die Kunst des Konjugierens pflegte – es geht nichts über den Subjonctif imparfait – und „Le Rouge et le Noir“ von Stendhal las. In meiner Freizeit ging ich mit Freundinnen zum Strand oder stromerte am Alten Hafen herum. Einmal stieg ich zu Notre-Dame de la Garde hinauf, das ist die Kirche, die hoch über der Stadt auf einem Felssporn thront. Ich sah auf das Mittelmeer, nichts als Blau bis zum Horizont, und bemerkte, dass sich die Horizontlinie deutlich krümmte. Von der Notre-Dame de la Garde aus konnte ich tatsächlich erkennen, dass die Erde rund ist, und das gefiel mir außerordentlich.
Nach meinem Aupair-Jahr immatrikulierte ich mich an der Universität von Tübingen, wo ich bereits zur Schule gegangen war. Ich studierte im Hauptfach Germanistik, außerdem Allgemeine Sprachwissenschaft und Politikwissenschaft. Meinen Lebensunterhalt verdiente ich erst an der Kasse eines Supermarktes, dann im Schreibzimmer der Universitäts-Augenklinik. Dort tippte ich halbtags Arztbriefe und viele Seiten lange Gutachten für die Berufsgenossenschaft, in denen Begriffe wie Ophthalmoplegie oder Chorioiditis iuxtapapillaris vorkamen. Als die Verwaltung mir mitteilte, wann ich mein 25-jähriges Jubiläum im öffentlichen Dienst feiern würde, erschrak ich und meldete mich zum Examen an. Einen ähnlich sicheren Arbeitsplatz hatte ich allerdings nie wieder.
Noch als Studentin hatte ich meinen Mann kennengelernt, und als wir meine Magisterprüfung und sein Doktorexamen in Chemie glücklich hinter uns hatten, nahm er eine Assistentenstelle an der Universität Genf an. Ich machte erst noch ein Praktikum bei einem Radiosender und zog ein paar Monate später nach. Wir hatten einen kleinen Transporter gemietet, in dem wir die Ikea-Regale und das schwarze Ledersofa aus meinem Studentenzimmer transportierten, dazu viele Bücherkisten.
Ich hatte es allerdings versäumt, mich über die Zollformalitäten kundig zu machen, und als wir zur Grenze kamen, schlug der Schweizer Zollbeamte die Hände über dem Kopf zusammen. Nachdem wir aber einige Kartons geöffnet hatten, in denen zufällig nur Bücher waren, schaute er mitleidig und ließ uns passieren. Gegen Abend kamen wir am Genfer See an, und der Mont Blanc stand riesig und rosa über der gewaltigen Landschaft.
Ich hatte mich an der Universität Lausanne für ein Doktorandenstudium eingeschrieben, außerdem unterrichtete ich Deutsch an einer Privatschule und konjugierte mit meinen Nachhilfeschülern starke Verben. Am Wochenende stiegen wir auf alle Berge, auf die man ohne Seil und Haken kommt, aber wir wurden nie damit fertig, denn es sind ziemlich viele. Auch die kalte Jahreszeit, in der Genf mitunter wochenlang unter einer dichten Hochnebeldecke steckt, hatte ihre Reize: Mein Mann erklärte Käsefondue zu seinem Lieblings-Wintersport, und zur besseren Verdauung wanderten wir mit Schneeschuhen in den Jurabergen und lauerten Gämsen auf.
Wir besaßen kein Auto, dafür aber ein sogenanntes Generalabonnement. So lernten wir das Schweizer Kursbuch auswendig und versuchten mitunter, möglichst viele öffentliche Verkehrsmittel an einem Tag zu benutzen: Tram, Bahn, Postbus und als Krönung eine Fahrt auf einem alten Dampfschiff. Wahrscheinlich würden wir immer noch am Genfer See sitzen und sonntags in einer Wirtschaft hellgelben Chasselas aus kleinen Gläsern trinken, wenn die Stelle meines Mannes nicht befristet gewesen wäre. So zerlegten wir die Ikea-Regale in ihre Einzelteile, packten auch die Bücher wieder ein und die vielen Dias vom See und den Bergen.
Damals lebte mein Vater noch, und er besorgte uns eine winzige Wohnung in Rottenburg am Neckar, wo zu jener Zeit auch mein Bruder war. Die Bischofsstadt Rottenburg ist nur wenige Kilometer von Tübingen entfernt, liegt aber in einer ganz anderen Welt – selbst der Dialekt ist anders. Die Gegend ist ehemals vorderösterreichisches Gebiet und somit katholisch geblieben, im Gegensatz zum reformierten Alt-Württemberg. Ich selbst bin evangelischer Konfession, und so erlebte ich nun im Schatten des Domes, dessen Ding-dang-dong den Tag zerteilte, das katholische Brauchtum im Jahreslauf mit. Nicht zuletzt die Fasnacht, die noch bewusst als die Zeit vor dem Frühjahrsfasten erlebt wird. Ich fand das spannend.
Als ich anfing, als freie Mitarbeiterin für das „Schwäbische Tagblatt“ zu schreiben, war ich schnell auf die Fasnacht und andere lokale Themen festgelegt. Und nachdem ich einige Jahre lang über Land und Leute berichtet hatte und eine Stelle frei wurde, fand ich mich plötzlich als festangestellte Redakteurin wieder. Mein Mann war unterdessen beruflich weitergezogen, erst nach Texas, dann nach Japan. So musste ich mir wenigstens nie über mein Urlaubsziel Gedanken machen – einmal winkten wir dem japanischen Kaiser zu, und wir standen auch schon bei Sonnenaufgang auf dem Fuji. Aber das ist eine andere Geschichte.
Als mein Mann in Detroit sesshaft wurde und außerdem klar war, dass meine befristete Stelle nicht verlängert würde, packte ich vor ziemlich genau vier Jahren unseren Hausrat in 50 Kisten. Die Hälfte davon füllte ich mit Gedrucktem. Bücher sind wie Karnickel – wenn man nicht hinschaut, vermehren sie sich heimlich. Die Regale verschenkte ich, ebenso meine wunderbare kleine Waschmaschine aus der Schweiz.
Alles andere verpackte die Spedition in einen 10-Kubikmeter-Container – oder sie versuchte es wenigstens. Irgendwann kam nämlich ein Anruf: Es passe nicht alles rein. Der Vertreter der Firma hatte sich verschätzt. Das war zwei Tage vor meinem Abflug. Ich fuhr zur Lagerhalle der Spedition und sah, dass die Möbelpacker alles verstaut hatten, bis auf das schwarze Ledersofa. Was tun? Einige Kisten in Deutschland lassen? Ich entschied mich für die Bücher. Das Sofa blieb bei der Spedition, und meine Schwester holte es irgendwann ab. Jetzt steht es, glaube ich, zu Hause bei meinem Bruder im westfälischen Münster.
Inzwischen finden sich auch einige englischsprachige Titel in meinem Bücherregal. Ein neues Sofa habe ich mir noch nicht angeschafft.