In Heinrich Bölls Erzählung „Nicht nur zur Weihnachtszeit“ gibt es eine Tante Milla, die darauf besteht, dass ihre Familie ganzjährig einen festlich geschmückten Baum bereithält und jeden Abend „Stille Nacht“ intoniert. Tante Milla ist nämlich nie darüber hinweggekommen, dass es während der Kriegsjahre keinen Baum zum Schmücken gab, und muss nun mittels Tannenbaumtherapie und Dauerweihnachten ruhig gestellt werden. Nun ist (jedenfalls mir) nicht bekannt, was die lebenslange Weihnachtseuphorie bei Wally Bronner auslöste. Aber eines ist sicher: Tante Milla kann einpacken. In „Bronner’s Christmas Wonderland“ stehen Hunderte von Tannenbäumen (aus Plastik, das hätte Tante Millas Familie auch praktisch gefunden). Und in der Stille-Nacht-Kapelle, die der Geschäftsmann aus dem kleinen Ort Frankenmuth in Michigan errichten ließ, ertönt das in alle möglichen Sprachen übersetzte Weihnachtslied in einer Endlos-Schleife.
Kein Zweifel: Der Mann kann von Weihnachten einfach nicht genug kriegen. Bereits seit dem Jahr 1945 ist der heute 80-jährige Bronner im Geschäft. 1954 eröffnete er seinen ersten Laden mit allerlei Dekorationsmaterial zum Christfest, der sich schließlich zum Weihnachts-Supermarkt auswuchs. Seine roten Sakkos trägt er so selbstverständlich wie Santa Claus die Zipfelmütze (bei Empfängen erscheint Bronner aber schon einmal in Dunkelgrau, siehe Bild). Und am kommenden Samstag und Sonntag wird er wieder mit Kunden Weihnachtslieder singen, am Harmonium begleitet von seiner Frau Irene.
Bevor ich Wally Bronner persönlich kennenlernte, konnte ich mir das einfach nicht vorstellen. Weihnachten, lebenslang – wie hält einer das aus? Aber Bronner scheint damit keine Mühe zu haben, ganz im Gegenteil: Neben seiner Geschäftstüchtigkeit ist eine heitere Gemütslage unverkennbar. Wenn er die Leute an einem warmen Septembertag mit einem herzhaften „Merry Christmas“ begrüßt, lachen sie. Und die Weihnachtslieder singt der deutschstämmige Unternehmer sogar in der Sprache seiner Vorfahren. Selbst die Familie macht mit – anders als bei Tante Milla. Neben dem Seniorchef und seiner Gattin sind sechs weitere Familienmitglieder im ganzjährigen Weihnachtsgeschäft tätig.
Nun hat Wally Bronner außer einem unübersehbaren Hang zu Weihnachten noch eine zweite Leidenschaft – wahrscheinlich ist diese überhaupt der Grund für das ganze Spektakel, das sich dem Besucher am Ortseingang von Frankenmuth bietet. Aber das erschließt sich nicht sofort, man muss dafür einige Male dort gewesen sein. „Wie viele Schilder siehst du?“, fragte mein Mann plötzlich, als wir auf dem riesigen Parkplatz des „Christmas Wonderland“ standen und (wieder einmal) kopfschüttelnd die seltsame Szenerie betrachteten, inklusive all der Santas und Schneemänner und Krippenfiguren aus Plastik. Schilder? Schilder!
Es gibt zwar ein paar Bäume rings um den Weihnachts-Supermarkt, aber was da vor allem wächst, ist ein riesiger Schilderwald: Wegweiser. Verkehrsschilder. Warnhinweise. Unzählige Beschriftungen und Erklärungen. Über der überlebensgroßen Krippenszene vor dem Eingang verkündet eine Inschrift: „Enjoy CHRISTmas, it’s HIS Birthday; Enjoy Life, It’s HIS Way“ – das Firmenmotto. Daneben steckt ein Schild mit einem länglichen Text unter Überschrift „2000th Anniversary of Christ’s Birth“. Auf den zahlreichen Papierkörben steht vorne „LITTER“ und auf der Seite die Übersetzung in 14 Sprachen. Und vor einem Santa im Rentierschlitten warnt das Verkehrsschild „DEER XING“.
Tatsächlich heißt es in der offiziellen Firmenchronik, dass der junge Wallace Bronner schon als 16-Jähriger seine ersten Schilder malte – nach der Schule, im Keller der Eltern. Er bemalte auch Tafeln für Schaufensterdekorationen. So kam er wie von selbst zum Weihnachtsgeschäft – eine ideale Verbindung. Und heutzutage erglänzen 100.000 Lichtlein entlang der Christmas Lane zum Weihnachtswunderland. Jeden Abend.
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