Ich habe eine Marotte. Wer jetzt denkt, das ist eigentlich nichts Neues und überhaupt hat sie nicht bloß eine, mag sogar Recht haben – nur habe ich das nicht gemeint. Meine Marotte steht nämlich links von mir auf dem Schreibtisch, trägt eine Schellenkappe und lächelt schelmisch, wenn ich mal wieder mit Formulierungen ringe. Der aus Holz geschnitzte Puppenkopf im Narrenkleid ist auf einen Stab montiert: So hat der Fastnachtsnarr bei seinem Einsatz die Marotte fest im Griff. Das ist praktisch, schließlich handelt es sich bei der Figur um sein wichtigstes Attribut, das Narrenzepter. Und wenn der Narr in den Hochburgen der schwäbisch-alemannischen Fastnacht das Regiment führt, ist sein kleines Ebenbild immer dabei.
Dass es sich bei der Marotte nicht etwa um einen beliebigen Kopf handelt, sondern dass sie tatsächlich als Porträt des närrischen Trägers zu verstehen ist, zeigt der Freiburger Volkskundler Werner Mezger in seinen Untersuchungen zu Ursprung und Sinn der Fastnacht. „In der Figur am oberen Ende seines Stabes erkennt der Narr sein eigenes Konterfei, sieht er gewissermaßen sich selbst“, schreibt Mezger in seinem Buch „Narrenidee und Fastnachtsbrauch“. Und weiter: „Dies erklärt auch, warum auf einem Großteil aller Darstellungen die Narren ihren Stab stets so in der Hand halten, dass dessen Miniatur-Torengesicht ihnen entgegenblickt.“
Gründlich mit dem Thema befasst habe ich mich in meiner Zeit als Redakteurin in Rottenburg am Neckar, wo sich zumindest die meisten Alteingesessenen heute wieder „eine glückselige Fasnet“ wünschen. In Rottenburg ist die Figur des Hofnarren Halberdrein der offiziellen Fasnets-Repräsentantin Gräfin Mechthild beigeordnet. Am heutigen Schmotzigen Donnerstag verkündet die Gräfin vom Rathausbalkon aus die Eröffnung der Rottenburger Fasnet und übergibt dem Hofnarren symbolisch die Schlüssel der Stadt. Dann regiert die Narretei.
Das Schöne am Rottenburger Hofnarr: Er entspricht in seinem Erscheinungsbild perfekt dem mittelalterlichen Standardnarren – und verkörpert so den Fasnachtsgedanken schlechthin. Ursprünglich bezeichnete der Narr eine Außenseiterexistenz. „Die Gestalt des Narren widersetzt sich allen Regeln der Vernunft“, schreibt Mezger. Im Zusammenhang mit der Fastnacht bot die Rolle des lachenden Narren vielfältige Identifikationsmöglichkeiten. Auch als Figur, die vernarrt in ihr Ebenbild ist. Mezger: „Die Marotte versinnbildlicht letztlich genau das, was nach der spätmittelalterlichen Überzeugung der Kern aller Narrheit war: Die Liebe zu sich selbst.“
So wird verständlich, dass die Marotte, sprachgeschichtlich mit der Marionette verwandt, im Deutschen wie im Französischen bald nicht mehr nur konkret das Narrenzepter bedeutete, sondern im übertragenen Sinne auch für eine närrische Verhaltensweise stand: „Eine Marotte haben – avoir une marotte“ ist bis heute eine feststehende Redewendung geblieben.
Die Marotte auf meinem Schreibtisch, die mir einst ein guter Freund geschenkt hat, kann darüber nur lachen. Und dann schüttelt sie den Kopf, dass die Schellen klingen.