Wer wird gewinnen? Am letzten Wochenende im Oktober, zehn Tage vor dem Wahltermin, herrscht in Ann Arbor Kampfstimmung. Allerdings hat das weniger mit den Präsidentschaftswahlen zu tun – Tübingens US-Partnerstadt ist vom Footballfieber gepackt.
Wie an jedem Samstag, an dem ein Heimspiel im Stadion der University of Michigan (U-M) ansteht, geht es in er Innenstadt von Ann Arbor hoch her. Wolverines heißen die Lokalmatadore, und man erkennt sie und ihre Fans leicht am Uni-Logo: einem gelben „M“ auf blauem Grund. Die meisten Einheimischen tragen am Spieltag blaue oder gelbe Kleidung, was wahrscheinlich nur Europäer lustig finden können. Amerikanischer College-Football ist eine ernsthafte Angelegenheit, auch in der Tübinger Partnerstadt im US-Bundesstaat Michigan.
Das gilt vor allem am Tag der grünen Invasion. Die Grünen, das sind die Spartans von der Michigan State University (East Lansing), die Erzrivalen der U-M. Die Begegnung ist der Höhepunkt
der Saison. Schon am späten Vormittag stauen sich Autos mit Spartan-Aufklebern in der Hauptstraße der Tübinger Partnerstadt. Es ist ein kalter Herbsttag, und bald sind viele grüne Anoraks unterwegs. Der Inhaber eines T-Shirt-Ladens hängt die Flaggen beider Mannschaften außen ans Schaufenster – Geschäftssinn schlägt Lokalpatriotismus. Auch sonst gibt sich der Besitzer unparteiisch. Jedenfalls lassen die übrigen Auslagen diesen Rückschluss zu: Im Angebot sind T-Shirts, die für beide Präsidentschaftskandidaten werben, für den Demokraten Barack Obama und für seinen republikanischen Konkurrenten John McCain.
Auf die Frage, ob sich McCain-T-Shirts im traditionell Demokraten-freundlichen Ann Arbor überhaupt verkaufen, gibt der Mann nur zögerlich Auskunft. Ja, er habe einige verkauft, antwortet er dann. Die Journalistin lässt nicht locker: Aber wahrscheinlich mehr von der Obama-Sorte? Der Ladenbesitzer bejaht. „Das will ich aber hoffen“, ruft eine Passantin, die das Gespräch mitbekommen hat. „Das will ich aber schwer hoffen!“
Außerhalb des T-Shirt-Ladens dürfte es in der Innenstadt von Ann Arbor nur wenig Hinweise auf die Existenz des republikanischen Kandidaten geben – abgesehen vom Büro der McCain-Wahlhelfer selbst. Auf der Kampagnen-Website ist es als lokales „Victory Office“ (zu Deutsch „Siegesbüro“) aufgeführt. Aber offenbar glauben in der Partei nicht einmal mehr die Optimisten daran, dass die Republikaner am 4. November die 17 Wahlmänner aus Michigan für sich verbuchen können: Schon Anfang Oktober haben John McCain und seine Vizekandidatin Sarah Palin den Wahlkampf in Michigan offiziell eingestellt. Meinungsumfragen zufolge liegt Barack Obama im Bundesstaat mit 17 Prozentpunkten in Führung. Und wie heißt die Stadt in Michigan, aus der die meisten Spenden für die Obama-Kampagne kamen? Richtig, Ann Arbor. Eine knappe halbe Million Dollar waren es Presseberichten zufolge.
Obwohl es keinen Zweifel daran gibt, wen man in der Tübinger Partnerstadt gern im Präsidentenamt sähe, sind die Wahlhelfer im lokalen Obama-Büro an der Ecke von West Liberty und First Street sehr aktiv. Nun, vielleicht nicht gerade vor einem Heimspiel – ein gelbes „M“ am Gebäude deutet schon an, dass auch Wahlkämpfer bisweilen Prioritäten setzen. In diesem Fall geht Sport vor Politik. Allerdings denken nicht alle so: Immer wieder sieht man Leute, die ihren Einkäufen nach vom Markt kommen und außer dem Gemüse noch ein Barack-Obama-Rasenbanner nach Hause tragen. Abgesehen von Werbespots im Fernsehen und im Internet spielt sich der US-Wahlkampf vor allem in Vorgärten ab. Wahlplakate im öffentlichen Raum sind nicht üblich.
Die Quelle für die Obama-Schilder findet sich schließlich auf dem Wochenmarkt: ein Stand der Demokraten. Die Republikaner? Fehlanzeige. Auch Adrian Cleypool hat mit ihnen nichts am Hut: Daran prangen vielmehr Obama-Anstecker, die Cleypool neben passenden T-Shirts aus der eigenen Druckerei verkauft. Schon den ganzen Sommer über stand er jeden Samstag auf dem Markt – dabei hat ihm der Hut gute Dienste geleistet. Jetzt wirkt der Strohhut nicht mehr saisongemäß. Der Wahlkampf war lang: Seit anderthalb Jahren sei er für Obama im Einsatz, so der 63-Jährige.
Cleypool, der ursprünglich aus Rotterdam stammt, ist seit dem Vietnamkrieg politisch aktiv. Als er eingezogen werden sollte, verweigerte er den Militärdienst aus Gewissensgründen – nach stundenlangem FBI-Verhör konnte er sich damit sogar durchsetzen. Seinen Ersatzdienst leistete Cleypool, der vorher in einer anderen Region von Michigan gelebt hatte, im Krankenhaus in Ann Arbor. Und er blieb in der Unistadt hängen. Von einem Wahlsieg Obamas verspricht er sich eine grundsätzlich Änderung der politischen Kultur – „einen großen Aufbruch“, wie er es nennt.
Mit einem Schild im Garten zeigen die Leute, „dass sie zur Obama-Familie gehören“, meint er. Aktivisten wie Cleypool möchten vor allem sicherstellen, dass die Wähler tatsächlich an die Urnen gehen – sonst nützen die ganzen schönen Umfragewerte nichts. Im Mehrheitswahlsystem der USA, bei dem die siegreiche Partei alle Wahlmänner eines Bundesstaates für sich verpflichtet, bringen oft wenige Stimmen die Entscheidung. 537 Wählerstimmen in Florida verhalfen George W. Bush im Jahr 2000 zum Sieg. Der Demokrat Al Gore erhielt landesweit mehr Wählerstimmen als Bush, wurde aber trotzdem nicht Präsident.
Für knappe Wahlausgänge ist gerade Ann Arbor berühmt. Im Jahr 1977 wurden die Bürgermeisterwahlen mit einer einzigen Stimme entschieden – das steht jedenfalls in einem Blättchen, das zur Wahlzeit in der Filiale einer bekannten Kaffeeshop-Kette ausliegt. Ann Arbors Bürgermeister John Hieftje, der am 4. November für eine fünfte Amtszeit zur Wahl steht, hat in dieser Hinsicht allerdings nichts zu befürchten – es gibt zwar einen Gegenkandidaten von der Libertarian-Partei, aber der stellt keine ernsthafte Konkurrenz dar.
Das soll nicht heißen, dass der Favorit in Ann Arbor nicht gelegentlich einmal verliert. Das Spiel der U-M gegen Michigan State endet 21-35 – der erste Sieg der Spartans seit 2001 über die lange Zeit übermächtigen Wolverines.
Zurück zur Politik. Wie gut sind die Chancen von Barack Obama? Adrian Cleypool gibt sich zuversichtlich: „Am Tag nach der Wahl drucke ich neue T-Shirts.“ Mit der Aufschrift „President Obama“.