Die kleine Vitrine vor der Suppenküche steht leer: Die Plastikmodelle der Speisen, ausgesprochene Staubfänger, sind frisch gewaschen und stehen nun zum Trocknen in der Sonne. Daneben hocken vier junge Mädchen auf dem Boden und schälen unter viel Geschnatter und Gelächter dicke Gemüsezwiebeln, einen ganzen Haufen. Noch drei Tage bis Neujahr, seit heute sind Schulferien. Auch in den anderen Imbissbuden auf dem Gelände des Shinjo-ji, das ist der Tempel von Narita, sind die Vorbereitungen fürs Neujahrsfest in vollem Gange: Am 1. Januar pilgert man in Japan traditionell zu buddhistischen Tempeln und Shinto-Schreinen, um für Gesundheit und Glück im kommenden Jahr zu beten. Hatsumode nennt sich dieser überaus populäre Brauch, der die ganze Bevölkerung in Bewegung setzt. Und die Neujahrspilger wollen alle verköstigt sein.
Noch sind die Sitzkissen in den Suppenküchen leer, in einer der halboffenen Buden tafelt gerade die Familie. Ob man etwas zu essen bekommen kann? Kommen Sie herein, sagt die gepflegte ältere Dame mit Schürze, wahrscheinlich die Chefin des Etablissements, und schon bringt sie unaufgefordert grünen Tee, wie es üblich ist. Die Suppenschalen mit dicken Udon-Nudeln und Bergkräutern stehen wenig später auf dem Tisch. Es schmeckt vorzüglich, sehr würzig. Drüben am Tisch ist die Mahlzeit inzwischen beendet; die halbwüchsigen Töchter machen sich ans Gemüseschnippeln. Berge von Lauch liegen bereit, Basis für eine gute Brühe.
Draußen bricht sich das Licht in der Fontäne des Springbrunnens. Die Buden und Kioske rund um den Platz sind mit dem bunten Plastikglitter geschmückt, der in Japan alle Feste ankündigt. Die riesigen Schilder am Tempel-Gebäude, die zum Ausgang weisen, wirken seltsam überdimensioniert. Nebenan werden gerade Megaphone aus einem Fahrzeug geladen, von irgendwoher hört man Lautsprecherdurchsagen – ein Testdurchlauf für Neujahr. Die Wahrsagerin in ihrer Bude wartet noch auf Kunden.
In der Ginza, Tokyos Prachtmeile, tritt man sich so kurz vor der Jahreswende auf die Füße. Hoch über dem Häusermeer ist es ein weniger ruhiger: Viele Kaufhäuser haben einen Dachgarten, wo bevorzugt der Bonsai-Laden untergebracht ist sowie die Goldfischabteilung. Bei Seibu in Ikebukuro, dem einstmals größten Kaufhaus des Planeten, steht ein komplettes Bonsai-Wäldchen zum Verkauf bereit. Perfekt geformte japanische Ideallandschaften mit Kiefern oder wundervoll durchgeformte Miniatur-Kirschbäume kurz vor der Blüte, die entzückend sein muss.
Auf den Bänken neben der Gärtnerei schmusen Liebespaare im Angesicht von Tokyos Wolkenkratzern, und Kleinkinder jauchzen auf dem nahen Spielplatz. Gegenüber ein Gewächshaus mit etwas monoton wirkenden Grünpflanzen, die der Blattform und dem Preisschild nach zu schließen nur Orchideen sein können: Das teuerste Gewächs dieser Art kostet eine halbe Million Yen. Für 500 Yen kriegt man in der Suppenküche auf dem Kaufhausdach eine Schale Ramen. Bei der Konkurrenz kann man auch Würstchen am Holzspieß erstehen oder Currygerichte. Senioren, die sich in der Wintersonne wärmen, schlürfen hier ihre Nudeln, und nebenan vergnügen sich einige Jugendliche. Das einzige, was die Idylle etwas beeinträchtigt, ist der dreckige Kunstrasen unter den Gartenstühlen. Vom Verkehr ist nichts zu hören.
Das eigentliche Neujahrsgeschäft läuft acht Stockwerke tiefer, wo sich teuer gekleidete Japanerinnen mit leckeren Häppchen für den Jahreswechsel eindecken. In diesen Tagen ist das Warenangebot noch üppiger als sonst. Es spricht grundsätzlich viel dafür, bei der Besichtigung eines Landes die Regale seiner Supermärkte bevorzugt zu behandeln; in Japan kann das aufregender sein als jedes Museum. Dem einen oder anderen Angebot steht der westliche Besucher indessen ratlos gegenüber: Welchen Sinn macht eine Geschenkmelone, die 10.000 Yen kostet? Das sind rund 100 Dollar. Wer schenkt sich so etwas – und warum? Auch erschwinglichere Speisen haben oft etwas von kleinen Kostbarkeiten, die man essen kann. (...) Womöglich sind die Petits fours, die vor allem in den Lebensmittelabteilungen großer Kaufhäuser angeboten werden, noch zierlicher gebaut als in ihrem Herkunftsland – auch Japaner pflegen die hohe Kunst der Zuckerbäckerei. Süße Preziosen, in Vitrinen aufwändig arrangiert. Dazu zählen auch die einheimischen Mochi, die aus Klebereis hergestellt werden und zum japanischen Neujahrsfest gehören wie Verwandtenbesuch und Hatsumode.
Im weitläufigen Meji-Schrein in Tokyo geht dann der traditionelle Besuch der heiligen Stätten äußerst gesittet vor sich. Die in endlosen Schlangen anrückenden Neujahrspilger werden schon im Vorfeld per Videobildschirm über die Marschroute und die Infrastruktur belehrt, über dem Schreintor ist eine Kamera angebracht, und hübsche Polizistinnen regeln von der Höhe eines Fahrzeugs herab den Personenverkehr. Nur beim allgemeinen Ansturm auf die Amulette wird’s vorübergehend etwas unübersichtlich. Und die Horoskope, die ihnen nicht gefallen, knoten die Leute statt an die vorgesehenen Gestelle an alle möglichen Zweige und Zäune. Ein Wunder, dass sie nicht die Walkie-Talkie-Antenne des Wachmannes mit ihren Papierstreifen garnieren.
Die Hüter des Gesetzes haben es nicht leicht an diesem Tag. Ein Polizist steht im Geldregen wie Goldmarie: Der junge Uniformierte trägt ein Visier aus Plexiglas, um sein Gesicht vor den Münzen zu schützen, die um ihn herum niederprasseln. Der Vorplatz vor dem Meji-Schrein hat sich in einen gigantischen Opferstock verwandelt. Egal, ob Schrein oder Tempel, Shintoismus oder Buddhismus – Religion ist ein einträgliches Geschäft, besonders an Neujahr.
Damit alle spenden können, wird man zügig durchgeschleust, an den Verpflegungsständen kann man noch Yakisoba essen oder einen anderen nahrhaften Snack – im Stehen, mit Stäbchen – und dann geht's zurück zur Station Harajuku, wo an diesem Tag ein Extra-Bahnsteig eingerichtet wurde. Überall in den Zügen sieht man Leute, die ihr Neujahrs-Amulett in Pfeilform vor sich her tragen wie eine Trophäe. Viele Frauen bewegen sich nur mit Trippelschrittchen vorwärts; das liegt am Festtagskimono, den sie winterlich mit einem Pelzkragen geschmückt haben. Zur Aufmachung gehören spezielle Handtäschchen, die im Stil zu den kostbaren Seidenkimonos passen. Und dann ziehen die Schönen ihr rosa Hello-Kitty-Handy heraus und telefonieren. (...)
(Auszug aus Die schlechten Horoskope hängen im Gebüsch, erschienen am 07.01.05 auf Wirtschaftswetter.)